Die Moderne ist eine Zeit der Krisen (Kaufmann/Lessenich 2015). In unterschiedlichsten Kontexten und Umständen und zu unterschiedlichsten Zeiten werden Krisen diagnostiziert. Seien es, wie jüngst, Krisen der Finanzmärkte (Schäfer 2009; Roubini/Mihm 2010) oder des Weltklimas (Brand/Wissen 2011), Krisen im Zusammenhang mit Migrationsphänomenen (Hess u. a. 2016), die Krise der europäischen Identität (Tibi 1998), Krisen der demokratischen Verfasstheit moderner Nationalstaaten angesichts populistischer Massenbewegungen (Michelsen/Walter 2013)-seien es Wertkrisen oder Krisen des Bildungssystems (Fees 2000). All diesen Krisen ist gemein, dass mit ihnen nur in einem begrenzten Mass Fakten korrespondieren. «Krise» ist keine empirische Beobachtung, keine Diagnose anhand festgelegter und überprüfbarer Kriterien. «Krise» ist nicht messbar. Vielmehr stellt die Bezeichnung von etwas als «Krise» bereits einen Interpretationsvorgang dar (Neumaier 2013). Dadurch gewinnt die moderne und gegenwärtige Krisensemantik eine eigentümliche Ambivalenz. Als Diagnose soll «Krise» etwas bezeichnen, einen Zustand oder Vorgang, der offenbar einen ergebnisoffenen Übergangsprozess bedeutet. Allerdings ist auch nicht jeder Übergang eine Krise (Neumaier 2013, 59f.). Die Krise kann sich zum Guten oder zum Schlechten wenden. Sie ist indifferent gegenüber Niedergang oder Fortschritt. Die Krise ist flüchtig, nicht greifbar. Daher wird bei genauerem Hinsehen schnell deutlich, dass die Krise selbst nicht sichtbar ist. Einzelne Phänomene werden als Zeichen oder Anzeichen einer Krise gedeutet. Festmachbar ist eine Krise nur an diesen. Krise ist, als Vorgang, ein zeitliches Phänomen, das eine Erstreckung, wenngleich nicht unbedingt einen fixen Anfang oder ein genau bestimmbares Ende hat. Zudem beansprucht eine Krise ein Gebiet: Krisen sind räumliche Phänomene, die Bestimmtes erfassen, anderes aber auch nicht. In temporaler wie in spatialer Hinsicht sind die Grenzen einer Krise unscharf.