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1. Orale Ursprünge und früheste Formen in Vorderorient und Mittelmeerraum 1.1 Definitionen und Grundlagen Die Überlieferung der Versepik im Alten Orient von ca. 3000 v.Chr. bis zur Zeitenwende überspannt einen offenen geographischen Raum, der sich von Anatolien und der Ägäis im Westen zum Iran im Osten erstreckt, mit einer Vielzahl miteinander verwobener Kultur-und Sprachtraditionen. Die Übertragung des Epikbegriffs auf die überlieferten dichterischen Erzählstoffe ist sicherlich anachronistisch: Er erzeugt einen Erwartungshorizont, der nicht unbedingt gewährleistet ist, und wurde gelegentlich sogar als Hindernis zum Verständnis der literaturgeschichtlichen Entwicklung empfunden. Eine gleichdeckende emische Bezeichnung ist nicht zu finden, andere Kategorisierungen sind nicht nur möglich, sondern auch für bestimmte Fragestellungen zielführender (Pongratz-Leisten 1999;Haubold 2002;George 2007;Michalowski 2010). Eine grobe, komparatistisch vertretbare Definition versteht aber unter dem Begriff allgemein längere Werke der primär narrativen Dichtung, die als ›Gesang‹ (sumerisch schir, akkadisch zamaru, hethitisch ischchamai-) bezeichnet werden (Schuol 2004). Damit bleiben vielfältige Überschneidungen mit anderen Textarten offen. Das primär Narrative ermöglicht einerseits eine ungefähre Trennung der Versepik von anderem Liedgut wie den preisenden Hymnen, die ebenfalls längere narrative Abschnitte enthalten können. Andrerseits steht die gesungene Versepik damit im Gegensatz zu anderen, in Prosa verfassten Erzählwerken wie den Herrscherinschriften und Chroniken. Eine Trennung der heldenhaften Verserzählungen, in denen historische oder legendäre Personen als Haupthandelnde im Zentrum stehen, von den mythischen, in denen göttliche Protagonisten die Hauptrolle einnehmen, lässt sich für den Alten Orient kaum rechtfertigen (George 2007). Der Schwerpunkt liegt hier auf den Kerngebieten der altorientalischen Überlieferung in Mesopotamien, Anatolien und der Levante. Nur am Rande sei auf einige weitere Traditionen verwiesen, die bisweilen in der Diskussion zur altorientalischen Epik miteingezogen worden sind. Obwohl ägyptische narrative Erzählungen und Versdichtung weit zurückreichen, ist eine komparatistisch vertretbare Epik wenn überhaupt erst spät nachzuweisen (Baines 2007, 56). Hier ist vor allem der demotische, aber in Prosa verfasste Inaros-Petubastis-Zyklus zu nennen, der auf die Zeit der assyrischen Eroberungen und der folgenden ägyptischen Befreiung im 7. Jahrhundert v.Chr. zurückgeht und in verschiedenen Fassungen vom 5.-2. Jahrhundert überliefert ist (Jay 2016). Anderswo wurden mündliche oder schriftlich nicht erhaltene epische Vorlagen postuliert, so für das hebräische Alte Testament als mögliche redaktionsgeschichtliche Quellenvorlage von Abschnitten wie im Lied der Deborah (Richter 5; Niditch in Foley 2005, 277-287; Pardee 2012, 38; Smith 2014, 211-307). Zum gleichen kanaanäischen Kulturkreis zählen die rekonstruierten Mythen des Phönizischen, nacherzählt in der ›Phönizischen Geschichte‹ von Herennios Philon im spät...
1. Orale Ursprünge und früheste Formen in Vorderorient und Mittelmeerraum 1.1 Definitionen und Grundlagen Die Überlieferung der Versepik im Alten Orient von ca. 3000 v.Chr. bis zur Zeitenwende überspannt einen offenen geographischen Raum, der sich von Anatolien und der Ägäis im Westen zum Iran im Osten erstreckt, mit einer Vielzahl miteinander verwobener Kultur-und Sprachtraditionen. Die Übertragung des Epikbegriffs auf die überlieferten dichterischen Erzählstoffe ist sicherlich anachronistisch: Er erzeugt einen Erwartungshorizont, der nicht unbedingt gewährleistet ist, und wurde gelegentlich sogar als Hindernis zum Verständnis der literaturgeschichtlichen Entwicklung empfunden. Eine gleichdeckende emische Bezeichnung ist nicht zu finden, andere Kategorisierungen sind nicht nur möglich, sondern auch für bestimmte Fragestellungen zielführender (Pongratz-Leisten 1999;Haubold 2002;George 2007;Michalowski 2010). Eine grobe, komparatistisch vertretbare Definition versteht aber unter dem Begriff allgemein längere Werke der primär narrativen Dichtung, die als ›Gesang‹ (sumerisch schir, akkadisch zamaru, hethitisch ischchamai-) bezeichnet werden (Schuol 2004). Damit bleiben vielfältige Überschneidungen mit anderen Textarten offen. Das primär Narrative ermöglicht einerseits eine ungefähre Trennung der Versepik von anderem Liedgut wie den preisenden Hymnen, die ebenfalls längere narrative Abschnitte enthalten können. Andrerseits steht die gesungene Versepik damit im Gegensatz zu anderen, in Prosa verfassten Erzählwerken wie den Herrscherinschriften und Chroniken. Eine Trennung der heldenhaften Verserzählungen, in denen historische oder legendäre Personen als Haupthandelnde im Zentrum stehen, von den mythischen, in denen göttliche Protagonisten die Hauptrolle einnehmen, lässt sich für den Alten Orient kaum rechtfertigen (George 2007). Der Schwerpunkt liegt hier auf den Kerngebieten der altorientalischen Überlieferung in Mesopotamien, Anatolien und der Levante. Nur am Rande sei auf einige weitere Traditionen verwiesen, die bisweilen in der Diskussion zur altorientalischen Epik miteingezogen worden sind. Obwohl ägyptische narrative Erzählungen und Versdichtung weit zurückreichen, ist eine komparatistisch vertretbare Epik wenn überhaupt erst spät nachzuweisen (Baines 2007, 56). Hier ist vor allem der demotische, aber in Prosa verfasste Inaros-Petubastis-Zyklus zu nennen, der auf die Zeit der assyrischen Eroberungen und der folgenden ägyptischen Befreiung im 7. Jahrhundert v.Chr. zurückgeht und in verschiedenen Fassungen vom 5.-2. Jahrhundert überliefert ist (Jay 2016). Anderswo wurden mündliche oder schriftlich nicht erhaltene epische Vorlagen postuliert, so für das hebräische Alte Testament als mögliche redaktionsgeschichtliche Quellenvorlage von Abschnitten wie im Lied der Deborah (Richter 5; Niditch in Foley 2005, 277-287; Pardee 2012, 38; Smith 2014, 211-307). Zum gleichen kanaanäischen Kulturkreis zählen die rekonstruierten Mythen des Phönizischen, nacherzählt in der ›Phönizischen Geschichte‹ von Herennios Philon im spät...
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