Zusammenfassung: Die Kernfragen dieses einleitenden Aufsatzes lauten: Wie können Gesellschafts-und Politiktheorie theoretisch, methodologisch und empirisch für eine historisch neue, "verflochtene" Moderne geöffnet werden, die ihre eigenen Grundlagen aufhebt? Wie kann die Theorie die fundamentale Zerbrechlichkeit und Wandelbarkeit der gesellschaftlichen Dynamiken (unbeabsichtigte Nebenfolgen, Herrschaft und Macht) erschließen, die am Beginn des 21. Jahrhunderts von der Globalisierung von Kapital und Risiken ausgehen? Was meint "methodologischer Nationalismus", welche theoretischen und methodologischen Probleme entstehen hier, und wie kann die theoretische und empirische Forschung sich für diese öffnen? Im Folgenden entwickeln wir diese "kosmopolitische Wende" in der soziologischen und politischen Theorie und Forschung in vier Schritten: Zunächst präsentieren wir die wichtigsten begrifflichen Werkzeuge einer Theorie der kosmopolitischen Modernen; danach de-konstruieren und re-definieren wir das Modell westlicher Modernisierung anhand von Beispielen aus der Forschung über Individualisierung und Risiko; drittens greifen wir das Schlüsselproblem des methodologischen Kosmopolitismus auf, nämlich die Definition der angemessenen Untersuchungseinheit; und schließlich diskutieren wir, viertens, Perspektiven und Dilemmata einer Theorie kosmopolitischer Modernen, insbesondere Probleme des Adressatenbezugs und des politischen Handelns.
Einleitung: Die kosmopolitische Wende in der Gesellschafts-und PolitiktheorieWenn eine Weltordnung zusammenbricht, beginnt das Nachdenken darüber. Das gilt nicht für den heute vorherrschenden Typus der Gesellschaftstheorie, der in universalistischer Erhabenheit und schlafwandlerischer Sicherheit über den Niederungen des epochalen Wandels (Klimawandel, Finanzkrise, Krise der Demokratie und der nationalstaatlichen Institutionen) hinweg schwebt. Diese universalistische Gesellschaftstheorie, sei es nun eine strukturalistische, interaktionistische, marxistische, Kritische oder Systemtheorie, ist heute antiquiert und provinziell. Antiquiert ist sie, weil sie ausschließt, was zu beobachten ist: ein Paradigmenwechsel von Gesellschaft und Politik in der Moderne (von der Ersten zur Zweiten Moderne). Provinziell ist sie, weil sie den pfadabhängigen Erfahrungs-und Erwartungsraum der westeuropäischen oder auch der US-amerikanischen Modernisierung fälschlich verabsolutiert und damit gerade den soziologischen Blick auf deren Besonderheit verstellt. Man würde bei weitem zu kurz greifen, wenn man meinte, dass wir, die europäische Soziologie, die Modernisierungspfade der Anderen nur ergänzend verstehen müssen, weil sonst unser Weltbild unvollständig ist. Vielmehr gilt: wir Europäer können uns nur dann selbst verstehen, wenn wir uns "deprovinzialisieren", das heißt, soziologisch-methodologisch mit den Augen der Anderen sehen lernen.Hauptgegenstand dieses Schwerpunktheftes der Sozialen Welt ist daher die Notwendigkeit einer kosmopolitischen Wende in der soziologischen und politischer Theorie und Forschung. Die Ker...