Das deutsche Passiv in historischer Sicht 1. Tem denzen in der Forschung zum P assiv Die große Zahl der Arbeiten zum Passiv, die in den vergangenen Jahren erschienen ist, macht deutlich, daß es im Bereich der grammatischen Kategorie des Passivs noch viele offene Probleme gibt. Weder ist eine Übereinkunft erzielt worden, welches die Hauptaufgabe dieser Kategorie ist, noch welche Formen dazu zu rechnen sind. Was das Deutsche betrifft, so ist nach einer Phase der Ausweitung des Passivbegriffs eine teilweise Rückkehr zur herkömmlichen Auffassung zu verzeichnen: Während der älteren Forschung allein die Fügungen mit werden + Partizip II als Passiv galten1 , waren in der Nachfolge von Glinz (1952) und anderen2 , die auch die sein + Partizip II-Fügungen als echte Passiva anerkannten, starke Ausweitungen des Begriffs Passivs zu verzeichnen. Insbesondere der Konversenbegriff gab Anlaß, die deutsche Sprache auf solche Strukturen hin abzusuchen, die bei möglichst identischer denotativer Bedeutung andere syntaktische Baumuster gegenüber einem als Ausgangspunkt gesetzten A ktivsatz erkennen ließen. Voraussetzung war allerdings, daß es sich dabei wirklich um syntaktische Konversen handelte, d. h. solche Baum uster, die lexikalische Kerne um Funktionswörter herum anordneten. Bei der Suche nach solchen Strukturen wurde man fündig. So wurden neben den werden-und sem-Passiva die bleiben-und gehören-Strukturen im Bereich der Akkusativkonversen und vor allem die kriegen/lbekommen/erhalten-sowie bestimmte Aaften-Strukturen im Bereich der Dativkonversen genauer erfaßt.3 Jede graimmatische Beschreibung steht unter dem Zwang, den Bezugsrahmen für eine zu treffende Entscheidung angeben zu müssen. Denn die Erfassung von Phänomenen einer Sprache, und seien sie noch so offensichtlich, bedarf eines Erklärungsrahmens. Für die ältere deutsche Sprachwissenschaft war dies die lateinische Schulgrammatik. Darauf bezogen, konnte sich allein das werden-Passiv als deutsches Passiv behaupten. D as Latein verfügt über nur ein Passiv, so daß die Suche nach weiteren Passivformen im Deutschen blockiert war. Die sein + Parti-1 Vgl. vor allem Behaghel (1924).