ZusammenfassungDie textanalytische Untersuchung von österreichischen literarischen Utopien aus dem Zeitraum 1880 bis 1914 bleibt bis heute weitgehend auf wenige kanonische Autoren und Texte (Theodor Herzl, Theodor Hertzka, Bertha von Suttner) begrenzt, da weite Teile der in der Monarchie entstandenen literarischer Utopie‐ und Zukunftsentwürfe als Trivial‐ oder Schemaliteratur gelten. In dieser Fallstudie wird die Erzählung Lao (1909) von Hans Müller‐Einigen aufgegriffen, in der die narrativen Schemata traditioneller Utopien mit dem diskursiven Pool der Wiener Moderne kombiniert werden. Der Text erweist sich dabei als ein vielschichtiges Konstrukt, das Lesarten im Sinne einer vitalistischen „Lebensideologie‟ (Lindner, 1994) und einer narzisstischen Poetologie der literarischen Moderne (Li, 2016) erlaubt. Letztlich wird die Erzählung so zur autopoetischen Absage des Autors an seine bisherige ästhetizistische Programmatik. Die zeittypischen Tendenzen zur Verzeitlichung (Voßkamp, 2018) und Verlagerung der Utopie/Dystopie in die Zukunft sowie der vorherrschende Trend eugenischer und sozial‐politischer Weltentwürfe wird von Müller‐Einigen durch ein rein aufs Ästhetische orientiertes Gemeinschaftsmodell unterlaufen, was zudem auf die Notwendigkeit hinweist, die literaturwissenschaftliche Utopie‐Forschung über den üblichen Rahmen der schematischen Untersuchung gattungskonstituierender Merkmale hinaus zu erweitern.1