In diesem Beitrag argumentiere ich, dass das grammatische Regelwerk "Lücken" hat und dass "realistische" Grammatikschreibung das in Theorie und Praxis berücksichtigen muss; insbesondere sind eventuelle Äußerungen in Lückensituationen außergrammatisch zu modellieren. Diese Konzeption wird anhand morphologischer und syntaktischer so genannter Zweifelsfälle intuitiv plausibilisiert und ihr Nutzen für die Grammatikschreibung in vergleichender Auseinandersetzung mit prominenten "lücken-losen" Analysen von zwei Beispielen-‚Right Node Raising'-und gewissen Ersatzinfinitiv-Strukturen-nachgewiesen. 1 Worum geht's?¹ Im Folgenden möchte ich für eine "realistische" Konzeption von Grammatik werben, die im Ansatz schon in Reis (1974, 1979) propagiert wurde, aber erst seit Kurzem, nicht zuletzt dank der weiterführenden Überlegungen in Haider (2011), Gegenstand lebhafterer Diskussion ist. Worum geht es dabei? Grob gesagt um die These, dass eine Grammatik "Lücken" hat, d.h. dass nicht alle systematisch möglichen grammatischen Konstellationen vollständig und/oder widerspruchsfrei geregelt sind. Die theoretische Folge ist: "Realistische" Grammatikmodelle müssen solche Lücken systematisch zulassen. Die methodisch-praktische Folge ist: Sprachdaten, die in solchen Lückensituationen produziert werden, sind bei der Rekonstruktion des grammatischen Regelwerks auszuschließen, dies aus folgendem Grund: Geraten Sprecher in Konstruktionen, in denen solche Lücken virulent werden, führt das zwar oft zum Abbruch bzw. Übergang zu unproblematischen Konstruktionen, aber oft genug werden unterschiedlichste Notlösungen produziert, d.h. es kommt zu der unter "Zweifelsfälle" abgebuchten Variation. Diese Varianten, selbst wenn sie als akzeptabel durchgehen, sind jedoch "realistisch" betrachtet nicht Produkte der (Anwendung der) Grammatik selber, sondern Produkte grammatischen Notstandsverhaltens, also außergrammatischer Verhaltensstrategien, und als solche zu modellieren. Für hilfreiche Kommentare und Korrekturanmerkungen geht mein herzlicher Dank an Hubert Haider, Marek Konopka und Angelika Wöllstein.