Zusammenfassung
Hintergrund
Zu den Aufgaben in der rechtsmedizinischen Praxis gehören zunehmend forensisch-medizinische Untersuchungen von Lebenden. Im Gegensatz zu Studien über Gewaltopfer findet sich in der Fachliteratur allerdings ein erhebliches Defizit an Ergebnissen über systematische rechtsmedizinische Untersuchungen von Tatverdächtigen.
Fragestellung
Welche relevanten Daten können aus einer retrospektiven Analyse von forensisch-medizinischen Untersuchungen von Tatverdächtigen erhoben und welche Rückschlüsse für die rechtsmedizinische Praxis gezogen werden?
Material und Methode
Es wurden insgesamt 270 Gutachten nach forensisch-medizinischen Untersuchungen von Tatverdächtigen aus dem Einzugsgebiet des Instituts für Rechtsmedizin der Universitätsmedizin Rostock der Jahre 2006 bis 2018 nach vorab definierten Kriterien ausgewertet.
Ergebnisse
Die vorgeworfenen Straftaten waren am häufigsten Körperverletzungen (n = 88 = 30,7 %), gefolgt von vorsätzlichen Tötungen (n = 63 = 22,0 %) und Sexualdelikten (n = 49 = 17,1 %). Von den begutachteten Personen waren 236 (87,4 %) männlich und 34 (12,6 %) weiblich. Die Mehrzahl der Tatverdächtigen (n = 175 = 65,5 %) war in einem Lebensalter von 18 bis 40 Jahren.
Im Hinblick auf die Aussage der rechtsmedizinischen Ergebnisse in Bezug auf den vorgeworfenen Straftatbestand wurden 126 (46,7 %) Gutachten als für den Tatverdächtigen belastend, 13 (4,8 %) als entlastend und 131 (48,5 %) als frei von Be- oder Entlastungsaussagen eingestuft.
Zu den 270 Gutachten über Tatverdächtige gab es 209 (77,4 %) korrespondierende Opferuntersuchungen. Von diesem Teilkollektiv mit Täter-Opfer-Begutachtungen wurden in 193 Fällen (92,3 %) Tatverdächtige und Opfer von demselben Gutachter untersucht.
Schlussfolgerungen
Für die Rekonstruktion eines Tatgeschehens sind rechtsmedizinische Untersuchungen des Opfers und des Tatverdächtigen wertvoller als die nicht selten beobachtete Untersuchung der geschädigten Person allein. Befunde mit belastenden Tendenzen für den Tatverdächtigen werden häufiger festgestellt als solche, die zu einer Entlastung des Beschuldigten führen. Da es in der Fachliteratur im Vergleich zu den Opfern von Gewalttaten ein Defizit an Ergebnissen über systematische forensisch-medizinische Untersuchungen von Tatverdächtigen gibt, sollten weitere Studien folgen.