Die Frage, was unter ‚Ekphrasis' zu verstehen sei, lässt sich gut am Pfaffen Amis, einem um 1230 entstandenen Schwankroman eines Autors, der sich ‚der Stricker' nennt, verdeutlichen. Amis, der Protagonist, kommt eines Tages an den Hof des französischen Königs in Paris. Er verspricht dem Herrscher, gegen angemessene Entlohnung den Saal seines Palastes mit Bildern großer Schönheit auszumalen. Diese Bilder hätten außerdem die Besonderheit, dass sie nur von denjenigen gesehen werden könnten, die von rechter Geburt seien; die unehelich Geborenen sähen dagegen einfach nichts. Amis selbst habe diese Technik erfunden. Der König ist fasziniert von dem Angebot und erspäht darin die Gelegenheit, einige seiner Vasallen der unadeligen Herkunft zu überführen und ihre Lehen einzuziehen. Später, nach Vollendung des versprochenen ‚Gemäldes', wird jedoch auch der König keine Bilder sehen, aus dem schlichten Grund, weil Amis gar keine gemalt hat; gleichwohl versucht der König, sein Nicht-Sehen zu vertuschen, und lässt sich die vermeintlichen Bilder von ihrem Maler beschreiben. Es geht also in der Episode um ‚unsichtbare Bilder'; um Bilder, die gar nicht existieren -und die in gewisser Weise eben doch da sind.Mit dieser paradoxen Verschränkung von Sehen und Nicht-Sehen, Bild und Wort, Malerei und Dichtkunst trifft die Maler-Episode des Pfaffen Amis ein wesentliches Merkmal der literarischen Ekphrasis, die als "verbal representation of visual representation" (Mitchell 1994, 152; vgl. Heffernan 1993, 3) zu verstehen ist. Der Begriff wird zumeist auf die aus der Antike stammende Technik der Kunstbeschreibung bezogen (vgl. jedoch auch weiter gefasst (vgl. Krieger 1992). Eine Ekphrasis erzeugt mit dem Mittel der Sprache Bilder, die nicht für sich existieren, sondern erst in der Rede entstehen. In dieser Hinsicht sind die in einer ‚herkömmlichen' Ekphrase vorgestellten Bildkunstwerke ebenso ‚unsichtbar' wie die Wandgemälde des Amis: Sie werden von einem Redner (oder Dichter) lediglich behauptet. Daher kann die metafiktionale Zuspitzung der Kunstbeschreibung im Pfaffen Amis gut als Ausgangspunkt dienen, um in die Grundzüge dieser ‚Wortbildkunst' einzuführen (vgl. Klarer 2008).