In seinem 1991 erschienenen,a utobiografisch angelegten Werk «Learning to Look» (Sehen lernen) schildert der bedeutendste Kenner der Renaissancekunst Italiens des 20. Jahrhunderts, der angelsächsische Kunsthistoriker Sir John Wyndham Pope-Hennessy (1913-1994, von seinen Mitarbeitern nur als «the Pope» tituliert, ob seiner Ve rdienste um die Erforschung des Kunstschaffens von Florenz mit der Ehrenbürgerwürde der Stadt am Arno bedacht, eine seiner Reisen in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts durch Deutschland mit Stationen in West-und Ostberlin, Dresden, Weimar.S ein Wegf ührte ihn auch nach Stuppach bei Bad Mergentheim. Vo ns einem Kunsterlebnis in Stuppach hält er in diesen Erinnerungen fest: Den Wegüber Frankfurt nehmend, ging ich zurück nach Köln, von dort nach Aschaffenburgund von Aschaffenburgn ach Stuppach, wo eine kleine Kirche die großartige Madonna von Grünewald, in meiner Zählung das einzige Meisterwerk von überragendem Rang der europäischen Malerei, das ich bislang noch nicht gesehen hatte. Kunsterfahrung vollzieht sich häufig unter den Bedingungen erheblicher Mühen, die man dafür auf sich nimmt, doch der Grünewald (von Stuppach) war eine Erfahrung von Offenbarungscharakter.E ine so überwältigende Offenbarung in der Ta t, wie sie vom vielleicht größten manieristischen Gemälde ausgeht, der ‹Grablegung Christi› von Grünewalds Zeitgenossen Pontormo in der Capponi-Kapelle der Kirche Santa Felicità, in deren Nähe ich in Florenz wohne. In Stuppachfragte ich mich, wie ich es nach jedem Besuch in Colmar tat, ob die primär auf italienischer Malerei basierende Kunstanschauung nicht einer Revision bedürfe. 1 Aus diesen Erinnerungen und Seherfahrungen des bislang kaum wahrgenommenen Besuchs von John Pope-Hennessy in Stuppach, der neben zahlreichen anderen Positionen Professori nC ambridge und Oxfordg ewesen war und mit grundlegenden Werken zu Bildhauern wie Donatello (um 1386-1466), Luca della Robbia (um 1400-1481), Benvenuto Cellini (1500-1571), zu Malern wie Fra Angelico (1386/1400-1455) oder Raffael (1483-1520) hervorgetreten ist, kann zweierlei festgehalten werden. Zum einen die Positionierung der «Stuppacher Madonna» auf der Ebene der größten Meisterwerke der europäischen Malerei. Der im mehrfachen Sinne wahrlich kunsterfahrene Pope-Hennessy hat die Begegnung mit der «Stuppacher Madonna» nach eigenen Worten geradezu als «Offenbarung» erlebt.