Spätestens mit der 1992er Rio Declaration on Environment and Development hat sich der Begriff „Ökosystemintegrität“ (ecosystem integrity) als Leitprinzip internationaler Umweltpolitik etabliert. Seinen Ursprung hat dieser Begriff in Bestrebungen in Kanada und den USA, mit Hilfe der positiven Konnotationen des aus der menschlich-sozialen Sphäre stammenden Begriffs der „Integrität“ die Wertschätzung und den Schutz von Natur zu fördern. Die Kombination mit dem Begriff „Ökosystem“ ergibt sich aus der Absicht, eine zugleich integrativ-holistische und naturwissenschaftlich-empirische Bewertungsmöglichkeit zu etablieren – anstelle einer entweder naturwissenschaftlich-reduktionistischen oder spirituell-holistischen Betrachtungsweise. In diesem Aufsatz wird zunächst der Entstehungskontext des Begriffs der Ökosystemintegrität beleuchtet, um dann vier konkurrierende Begriffsbestimmungen vorzustellen: Ökosystemintegrität als Fähigkeit eines Ökosystems, (i) seinen ursprünglichen Zustand, (ii) seine intrinsische Funktionalität bzw. innere Zweckmäßigkeit (Vollkommenheit) oder (iii) seine extrinsische Funktionalität bzw. äußere Zweckmäßigkeit (Nützlichkeit) aufrechtzuerhalten, sowie (iv), übergeordnet, ökologische Integrität als transpersonal-planetarisches Bewusstsein der Eingebundenheit des Menschen in das planetarische Ökosystem. Diese vier Konzepte werden zunächst – deskriptiv – im Hinblick auf die ihnen zugrunde liegenden naturwissenschaftlichen Theorien und naturtheoretischen Prämissen sowie auf ihren normativen Gehalt analysiert. Dann wird – normativ – ihre Eignung als umweltethisches Leitprinzip geprüft. Epistemologische Kriterien für die Auswahl dieser vier Begriffsbestimmungen waren: Werden Ökosysteme bzw. Ökosystemintegrität im Sinne eines ontologischen Realismus als beobachterunabhängige oder aber im Sinne eines ontologischen Konstruktivismus als beobachterabhängige Entitäten bzw. Eigenschaft begriffen? Was wird als Referenz dafür angesehen, ob etwas abträglich für Ökosystemintegrität ist? Vor allem in normativer Hinsicht ist die Frage relevant: Werden Menschen bzw. Gesellschaften als getrennt von oder als Teile von Ökosystemen bestimmt? Gewählt wurden diese Kriterien, weil sie entscheidende Prämissen der vielen verschiedenen Konzepte von Ökosystemintegrität erschließen, die in umweltethischer Hinsicht normativ wirksam werden. Die vorliegende Analyse zeigt, dass alle vier Konzepte von „Ökosystemintegrität“ mit schwerwiegenden Einwänden konfrontiert und als umweltethisches Leitprinzip problematisch sind – vor allem, weil sie auf fragwürdigen ontologischen Voraussetzungen basieren.