ZusammenfassungÜber die Nahrung wird eine Vielzahl von Naturstoffen aufgenommen, zu denen unter anderem sekundäre Pflanzenstoffe wie beispielsweise Alkaloide gehören. Einzelnen Substanzen aus dieser Stoffklasse wird ein antidepressives, antioxidatives oder neuroprotektives Potenzial zugeschrieben. Neben Stoffen mit gesundheitsfördernden Wirkungen können auch Lebensmittelkontaminanten wie sekundäre Schimmelpilz‐metaboliten vorkommen und durch ihre Neurotoxizität ein Gesundheitsrisiko darstellen. Die Wirksamkeit dieser neuroaktiven Substanzen im zentralen Nervensystem (ZNS) ist in vielen Fällen durch biologische Barrieren limitiert. Nach oraler Aufnahme übernimmt die Dünndarmbarriere, die das Darmlumen vom Blutkreislauf trennt, und die Blut‐HirnSchranke (BHS), die den Blutkreislauf vom empfindlichen ZNS trennt, eine wichtige Schutzfunktion vor Fremdstoffen.Die Transfereigenschaften solch bioaktiver Naturstoffe über die intestinale Barriere und die BHS wurden unter Verwendung von zwei Zellkulturmodellen analysiert. Das Caco‐2‐Modell wurde zur Simulation der Darmbarriere und primäre Schweinehirn‐kapillarendothelzellen (PBCEC) zur Modellierung der BHS verwendet. Zur Bestimmung der im Experiment transportierten Naturstoffe und ihrer Metaboliten wurden robuste Methoden mithilfe der Kopplung von Hochleistungsflüssigkeitschromatografie (HPLC) und Tandem‐ (MS/MS) oder hochauflösender Massenspektrometrie (HRMS) entwickelt.In der vorliegenden Arbeit wurden die sekundären Pflanzenstoffe Hordenin, die Glucoseabgeleiteten β‐Carbolinalkaloide Tangutorid E (Tan E), Tangutorid F (Tan F), Dehydroxy‐Derivate von Tan E/F (DH‐Tan E/F) sowie deren Grundgerüst Harman, die acylierten Imidazolalkaloide N‐Capronylhistidinol (HlC6), N‐Caprylhistidinol (HlC8), N‐Capronylhistamin (HmC6), N‐Caprylhistamin (HmC8), N‐Caprylhistamin‐ß‐Glucosid (HmC8‐Glc) und deren Grundgerüste Histidinol und Histamin sowie die Mykotoxine Penitrem A (Pen A) und Penitrem E (Pen E) detailliert untersucht.Um mögliche Effekte auf die barrierebildenden Zellen zu bewerten, wurden die zytotoxischen Eigenschaften der Naturstoffe mittels etablierter Tests zur Bestimmung der zellulären Viabilität untersucht. Die zuvor genannten Naturstoffe zeigten weder in Caco‐2‐Zellen noch in PBCEC eine zytotoxische Wirkung, sodass eine Schädigung der Darmbarriere oder der BHS durch zytotoxische Effekte im Konzentrationsbereich bis 1 pM ausgeschlossen wurde. Darüber hinaus wurden potenziell adverse Effekte auf die Barriereintegrität mittels zeitaufgelöster Zellimpedanzspektroskopie überprüft. Hierbei dienten der transepitheliale/transendotheliale elektrische Widerstand (TEER) und die elektrische Kapazität Cql als Leitparameter zur Beurteilung der Barrierestabilität. Zusammenfassend beeinträchtigten die untersuchten Naturstoffe bis zu einer Konzentration von 1 pM die Integrität der Caco‐2‐Barriere und der PBCEC‐Barriere nicht. Daher wurde der Fokus im Folgenden auf Untersuchungen zu den Transporteigenschaften und der Biotransformation der Naturstoffe gelegt.Das in Gerste vorkommende Hordenin passierte die Caco‐2‐Barriere sehr schnell. Daraus lässt sich eine rasche Absorption im Dünndarm und somit eine hohe Bioverfügbarkeit annehmen. Jedoch wird die Bioverfügbarkeit einerseits durch einen Efflux‐Transport aus der Blutbahn in das Darmlumen und andererseits durch eine Phase‐II‐Reaktion zu Hordeninsulfat eingeschränkt (Abbildung 1A). Um die Umsetzungsrate dieser Biotransformation quantitativ zu bestimmen, wurde Hordeninsulfat als hochreiner Standard chemisch synthetisiert. Diese Synthese stellt damit die erste präparative Herstellung eines Referenzstandards dar, der zukünftig auch in Studien mit physiologischen Proben Anwendung finden kann. Die Transferstudien im PBCEC‐Modell zeigten ebenfalls einen schnellen Transfer des Hordenins, der jedoch, anders als an der Darmbarriere, weder durch eine Biotransformation noch durch einen Efflux an der BHS limitiert ist (Abbildung 1B). Die somit anzunehmende Anreicherung im Gehirn identifiziert Hordenin als potenziell relevanten Dopamin‐2‐Rezeptor‐Agonisten, dessen Verfügbarkeit am Wirkort bisher nicht bekannt war. Die Verfügbarkeit im ZNS wäre bei oraler Aufnahme durch die Darmbarriere deutlich eingeschränkt, sodass im Falle einer therapeutischen Anwendung eine intravenöse oder nasale Verabreichung zu einer höheren wirksamen Konzentration führen würde.Für die Glucose‐abgeleiteten β‐Carbolinalkaloide Tan E, Tan F und DH‐Tan E/F, die vor allem in stark prozessierten Lebensmitteln vorkommen, wurden moderate Permeabilitäten der Caco‐2‐ Barriere bestimmt (Abbildung 2A). Dabei sorgte die höhere Lipophilie der Dehydroxy‐Derivate für einen schnelleren Transfer. Im PBCEC‐Modell wurde ebenfalls ein moderater Transfer dieser Substanzen festgestellt (Abbildung 2B). Zusätzlich zeigten die aktiven Transportstudien einen Efflux der Glucose‐abgeleiteten β‐Carbolinalkaloide an der BHS, der die Verfügbarkeit im Gehirn verringert. Diese Ergebnisse implizieren einen Transfer von Tan E, Tan F und DH‐Tan E/F nach oraler Aufnahme bis zum Gehirn. Trotz eines beobachteten Effluxes an der BHS untermauern diese Studien vor dem Hintergrund einer bekannten neuroprotektiven oder neurotoxischen Wirkung die Relevanz von Untersuchungen der Bioaktivität der Glucose‐abgeleiteten Derivate. Das bioaktive β‐Carbolinalkaloid Harman wurde in den passiven Transferstudien des Caco‐2‐Modells sehr schnell transferiert. Die Stoffmengenbilanz wurde dabei auch durch die hydroxylierten und N‐oxidierten Metaboliten sowie durch das Glucuronid eines dieser Metaboliten verringert. Im Hinblick auf die Transferkinetik sowie den Anteil des biotransformierten Harmans wurden im PBCEC‐Modell vergleichbare Ergebnisse erzielt. Infolgedessen sind in der intestinalen Barriere wie auch in der BHS weitere Biotransformationswege denkbar.Die aus Tomaten isolierten acylierten Imidazolalkaloide HlC6, HlC8, HmC6 und HmC8 wurden im Modell der intestinalen Barriere in moderatem bis hohem Maße über die Caco‐2‐Zellschicht transferiert (Abbildung 3A). Dabei nahm, wie erwartet, die Permeabilität der Barriere mit steigender Lipophilie der Substanzen zu. Einzig für HmC8 wurde außerdem eine umfangreiche Biotransformation beobachtet. Durch die Hydrolyse der Amidbindung wurde innerhalb kurzer Zeit Histamin freigesetzt, wodurch ein Teil der fehlenden Stoffmengenbilanz aufgeklärt wurde. Um einen potenziellen Einfluss endogenen Histamins auszuschließen, wurde diese Spaltung zusätzlich mithilfe eines zu diesem Zweck synthetisierten deuterierten Standards verifiziert. Der übrige Anteil des initial inkubierten HmC8 wurde vollständig in Form von Degradationsprodukten des Histamins nachgewiesen, die durch die Enzyme Histamin‐N‐Methyltransferase (HNMT) und Diaminoxidase (DAO) entstanden sind. Im Falle einer Histaminintoleranz sind diese Enzyme vermindert aktiv, sodass für betroffene Konsumierende der Tomatenverzehr aufgrund des freigesetzten Histamins aus HmC8 wahrscheinlich zu einem erhöhten Gesundheitsrisiko beiträgt. HmC8‐Glc, das in Tomatenprodukten in deutlich höherer Konzentration als HmC8 vorliegt, wurde im Caco‐2‐Modell in vernachlässigbarem Umfang über die Barriere transferiert. Eine Hydrolyse der glykosidischen Bindung durch das Darmepithel wurde nicht nachgewiesen. Im Falle einer solchen Spaltung durch die Darmmikrobiota könnte das frei vorliegende HmC8 schnell absorbiert werden. Im PBCEC‐Modell wurden, wie im Caco‐2‐Modell, moderate Transferraten für HlC6, HmC6 und HlC8 bestimmt (Abbildung 3B). Auch für HmC8 wurde an der BHS eine vergleichbare Transferkinetik wie im Modell der intestinalen Barriere festgestellt. Eine Biotransformation wurde jedoch nicht in relevantem Maße beobachtet. Allerdings wurde im Experiment des aktiven Transports ein schneller Efflux von HmC8 auf die „Blut”‐Seite der BHS nachgewiesen. Angesichts ihrer strukturellen Ähnlichkeit zu bioaktivem Histamin und der nachgewiesenen BHS‐Permeabilität sind zukünftige Untersuchungen potenzieller Interaktionen von HlC6, HlC8, HmC6 und HmC8 mit Histamin‐Rezeptoren (HR) von besonderem Interesse. Eine Blockierung des im ZNS lokalisierten H3R kann nachweislich die kognitiven Fähigkeiten sowie die Wach‐ und Aufmerksamkeit erhöhen, weshalb H3R‐Antagonisten ein gefragtes Wirkstoffziel für die Behandlung zahlreicher ZNS‐Erkrankungen darstellen.Die Penitreme A und E sind Mykotoxine, die hauptsächlich durch Penicillium‐ und AspergillusSpezies gebildet werden und in Lebensmitteln wie kontaminiertem Käse vorkommen. Die Caco‐2‐ Barriere zeigte eine hohe Permeabilität für diese Substanzen (Abbildung 4). Außerdem deuten erste Hinweise auf mutmaßliche Phase‐I‐Metaboliten von Pen A hin, die im Spurenbereich nachgewiesen wurden. Auch im Modell der BHS passierten beide Substanzen die Barriere der PBCEC schnell, wobei der Transfer des Pen E deutlich schneller war als der des Pen A. Die BHS hindert die Exposition des ZNS gegenüber den beiden Penitremen also kaum. Der in dieser Arbeit erstmals untersuchte Transportmechanismus der beiden Mykotoxine an der BHS liefert mögliche Erklärungen für die Beobachtung schnell auftretender neurologischer Symptome nach oraler Aufnahme aus Tierversuchen. Aufgrund der bekannten tremorgenen und neurotoxischen Wirkung verdeutlichen diese Ergebnisse die hohe Bedeutung der Substanzen als toxische Lebensmittelkontaminanten. Bei der zukünftigen Risikobewertung der Penitreme sollten diese Daten deshalb hinzugezogen werden. Neben Studien zum Transfer und Transport der Substanzen wurde aufgrund der wahrscheinlich hohen ZNS‐Verfügbarkeit von Pen A und Pen E die zelluläre Aufnahme in Astrozyten untersucht. Die dabei festgestellte zehnfach stärkere intrazelluläre Anreicherung von Pen A im Vergleich zu Pen E liefert eine plausible Erklärung für die höhere Zytotoxizität des Pen A. Für die Analyse der Struktur‐Wirkungs‐Beziehungen sind diese Daten deshalb besonders relevant.Abschließend ermöglichte der Vergleich der Ergebnisse aus den Transfer‐ und Transportstudien eine genauere Charakterisierung der verwendeten Barriere‐Modelle. Für alle untersuchten Naturstoffe außer HmC8‐Glc wurde ein Transfer im Caco‐2‐ und PBCEC‐Modell nachgewiesen (Abbildung 5), wobei die Permeabilität beider Barrieren für die Substanz jeweils in einem ähnlichen Bereich lag. Im Detail zeigte das Caco‐2‐Modell oft eine etwas höhere Permeabilität. Während im Caco‐2‐Modell vermehrt Reaktionen des Fremdstoffmetabolismus beobachtet wurden, wurde im BHS‐Modell teilweise eine stärkere Beteiligung von Efflux‐Transportern am Transportmechanismus nachgewiesen. Dies unterstreicht das Erfordernis beider Barriere‐Modelle zur umfangreichen und präzisen Beurteilung der oralen Bioverfügbarkeit und Verfügbarkeit im ZNS.Zusammengefasst wurden in der vorliegenden Arbeit durch Kombination von Experimenten in Zellkultursystemen mit modernen instrumentell‐analytischen Methoden neue Erkenntnisse zu den Transfer‐ und Transporteigenschaften sowie Wirkmechanismen lebensmittelrelevanter Naturstoffe an biologischen Barrieren gewonnen. Darüber hinaus tragen diese Erkenntnisse zu einem besseren Verständnis der Barrieren des Dünndarms und der BHS bei. Des Weiteren bieten die Ergebnisse einen ersten Einblick in die potenzielle orale Bioverfügbarkeit sowie die Verfügbarkeit im ZNS, die für die Bewertung der pharmakokinetischen Eigenschaften der Naturstoffe sowie der toxikokinetischen Eigenschaften der Mykotoxine bedeutend sind.