Siegfried Weichlein
Der Verfassungseid und die Verfassung der EideDass ein Eid auf die Verfassung abgelegt werden kann, impliziert Aussagen über den Charakter der Verfassung wie auch über die politische Bedeutung des Eides. Verfassungen kommen zustande und erhalten Gültigkeit, weil sie sich auf das imaginäre Subjekt eines Volkes und seine Souveränität, sich selbst eine Ordnung geben zu können, berufen. Hergestellt wird diese Legitimität durch Wahlen zu einer verfassungsgebenden Versammlung, ratifiziert zumeist durch eine Volksabstimmung -so das ideale Modell. Der Eid auf die Verfassung fügt dem nichts hinzu. Als performativer Akt stellt er die Selbstbindung eines Amtsträgers auf die Verfassungsordnung her. Aus dem Blick der politischen Ämterordnung konsekriert er einen einzelnen in eine überpersönliche Ämterstruktur hinein, die dadurch affirmiert wird, und macht ihn zum Amtsinhaber. Der Staat verankert durch den Eid seine Institutionen im Gewissen der Bürger. Dass der Verfassungseid bindet, hängt nicht zuletzt an der Freiwilligkeit der Gehorsamsleistung, die über die rein formale Ebene hinaus andere Dimensionen der "Fügsamkeit" (Max Weber) als das bloße Gehorchen evoziert. Ohne Freiwilligkeit kann der Eid nicht wirken (Conze 2013, S. 358).Historisch gesehen dient der Verfassungseid "maßgeblich zur Konstruktion des politischen Raums". Er ist ein Ritual, das relativ stabile Verhaltenserwartungen in einem Sozialsystem, beim Verfassungseid in einem politischen System absichert und gilt daher in der älteren Theorie als "vinculum societatis".1 Seine politische Bedeutung erhält der Verfassungseid vor allen Dingen in Zeiten politischen Umbruchs. Der Verfassungseid stabilisiert Erwartungen in die Dauerhaftigkeit einer Ordnung. Verfassungseide sind daher "Spiegelbild(er) der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung" (Friesenhahn 1928, S. X). Neuvereidigungen nach politischen Systemwechseln dienen dem Zweck, die Bindung an etwas Neues auf Dauer zu stellen. Der Verfassungseid setzt das Neue seinerseits symbolisch-rituell durch (Stollberg-Rilinger 2005, S. 21).Der politische Eid impliziert Aussagen über das Verhältnis von Religion und Politik. Paolo Prodi nennt ihn das "Sakrament der Herrschaft" (Prodi 1997). Die Rechtsordnung eines politischen Systems wird dadurch "zusätzlich auf der religiösen, moralischen, sittlichen Ebene abgesichert.[…] Die Geltung des rechtlichen Sollens wird im Eid auf eine apriorische prärechtliche Ordnung zurückgeführt" (Widder 1974, S. 704). Als dieser religiöse Bezug nach der Aufklärung zusehends schwand, trat der Charakter eines Vertrags im politischen Eid stärker hervor. Die Treue zur politischen Ordnung wurde zum Eidesinhalt.