Es ist eine -nicht nur dem Märchenforscher -bekannte Tatsache, daß im Volksmärchen immer wieder der Sieg des Kleinen über den Großen gefeiert wird. Dieser "Sieg des Kleinen über das Große, des Schwachen über das Starke", den M. Lüthi mit dem Thema von Sein und Schein in Beziehung brachte, waltet tatsächlich sozusagen ununterbrochen im Märchen 1 .Dieses wohl bekannteste Merkmal des Märchens hat viel dazu beigetragen, daß man in ihm eine Wunschdichtung sah. Heute meldet sich diese Theorie -seines Eskapismus entkleidet -in marxistischer Form wieder und interpretiert die scheinbare Schwäche des Märchenhelden als eine Art Inkognito. Nach dieser Auffassung könnte das Volk in seiner eigenen Kunst seine zukünftige Macht erträumt, sich jahrhundertelang auf diese Macht geistig vorbereitet haben 2 .Schon die Tatsache, daß das Märchen trotz aller wunderbaren Motive das "Mangelwesen" Mensch 3 in den Mittelpunkt stellt und dieses immer zum Sieg führt, läßt ahnen, daß es in ihm um den Sieg des Kleinen geht: Nicht Götter, Heilige oder andere übernatürliche Wesen sind seine Helden, sondern der verletzbare Mensch.Die Schwäche des Menschen im Märchen wird dadurch noch eigens betont, daß die Märchenhelden zumeist unscheinbar und unterdrückt, arm oder verwünscht, zudem meistens sehr jung sind. "Sie alle aber erweisen sich schließlich auf irgend eine Weise als überlegen" 4 . Nicht nur die Menschen, auch die Dinge, die übernatürlichen Helfer, die dankbaren und hilfreichen Tiere des Märchens sehen wertlos aus, sind fast immer unscheinbar, ärmlich, gebrechlich und schwach. Das Märchen bietet unzählige Variationen des scheinbar Unbedeutenden und Schwachen, es ist unerschöpflich in der Erfindung und Darstellung des Kleinen: das Kleine jedoch besitzt nie geahnte Fähigkeiten und Kräfte. Ab-1 Lüthi, M.: Volksliteratur und Hochliteratur. Bern/München 1970, 95-98.