ZusammenfassungPolitik und Religion in der Moderne – das ist das Wechselverhältnis zweier komplexer Größen. Der vorliegende Beitrag macht ausgehend vom Forschungstand für die Schweiz dieses Wechselverhältnis anhand von aktuellen Befragungsdaten in seiner Komplexität in der Bevölkerung und Wählerschaft sichtbar. Es wird die Annahme überprüft, dass Religion trotz der nachhaltigen Säkularisierung und Entkirchlichung nach wie vor einen Einfluss auf die Schweizer Politik hat. Politik wird unter den Aspekten von Macht und Einfluss (politics), politischen Sachthemen (policy) und politischer Gemeinschaft (polity) analysiert. Gefragt wird nach dem Einfluss von Religion auf Wahlteilnahme, parteipolitische Präferenzen, politische Einstellungen und Sachthemen sowie auf die Bewertung des politischen Systems. Anhand von Umfragedaten der MOSAiCH-Erhebung 2018, die den ISSP 2018 zum Thema Religion enthält, wird Religion als ein beim Einzelnen potenziell mehrschichtiges Phänomen bestimmt und operationalisiert. Mit einer seriellen Kontingenztabellenanalyse werden verschiedene, aus den Theorien der Wahlforschung abgeleitete Wirkungsannahmen bzw. -mechanismen statistisch überprüft. Religion wird definiert als Mitgliedschaft in gesellschaftlichen Großgruppen, Gelegenheitsstruktur für Face-to-face-Kontakte, Teil persönlicher Überzeugungen und Einstellungen sowie eigenständige soziale Identität. Wie die empirische Analyse zeigt, tragen alle diese Aspekte von Religion zur Erklärung der ermittelten, zum Teil recht starken Zusammenhänge bei. Schlussendlich kann aber keine der theoretischen Annahmen allein überzeugen, denn de facto korrelieren fast alle religionsbezogenen Indikatorvariablen so stark miteinander, dass sich die statistischen Erklärungsleistungen ähneln. Insgesamt zeigt sich: Ein christliches Profil der Wählenden stärkt in der Schweiz die politische Mitte allgemein. Es sind heute aber weniger die alten konfessionellen Gräben als vielmehr neue politische Konflikte um religionsbezogene Themen und soziale Identitäten, die dem Faktor Religion seine zum Teil konfliktive Wirkung in der Schweizer Politik verleihen. Dort, wo Religion und Religionspolitik strittig und konfliktbeladen sind, speist sich der Konflikt zudem stärker aus der Politik selbst als aus dem religiösen Feld. Diese Einsichten dürften Konsequenzen sowohl für eine angemessene gesellschaftliche Problembearbeitung der Streitfragen als auch für die Revision des verbreiteten, aber falschen Bildes der Religionsgemeinschaften als Konfliktursache haben. Im europäischen Vergleich weisen die Mitglieder der verschiedenen Religionsgemeinschaften in der Schweiz nämlich ein wohl weitestgehend harmonisches Neben- und Miteinander auf – eine durchaus nicht selbstverständliche Tatsache, deren genauer Prüfung nach Art, Umfang und Ursachen die quantitative Sozial- und Religionsforschung zukünftig einen Teil ihrer Aufmerksamkeit widmen sollte.