Zusammenfassung
Einleitung Bei der Konsultation eines Facharztes für Orthopädie und
Unfallchirurgie kommt der persönlichen Anamnese, Einschätzung und
manuell-händischen klinischen Untersuchung durch den Arzt vor Ort eine
elementare Rolle zu. Durch das „Digitale-Versorgung-Gesetz“ wurde die
Durchführung von Videosprechstunden erleichtert. Die vorliegende Pilotstudie
untersucht die Möglichkeit der videobasierten Einschätzung der
Behandlungsdringlichkeit entsprechend einer strukturierten medizinischen
Ersteinschätzung.
Material und Methoden Im Rahmen eines Ex-ante-Designs wurden 40 Patienten
mit einem orthopädisch-unfallchirurgischen Krankheitsbild mit elektiver,
dringlicher oder Notfallindikation aus Sprechstunde oder Notaufnahme ausgewählt.
Es wurde entsprechend den getätigten Angaben ein Kurzfragebogen ausgefüllt und
durch einen ärztlichen Kollegen ein Bewegungsablauf entsprechend den
Patientenangaben simuliert. Modifiziert nach den in der Wirbelsäulenorthopädie
etablierten „red flags“ und „yellow flags“ wurden 9 kurze Fragen erfasst, welche
die Dringlichkeit einer ärztlichen Vorstellung erfragten. Der videobasierte
Bewegungsablauf orientiert sich an einem 60 s langen Instruktionsvideo, in dem
motorische Tests und Bewegungsabläufe demonstriert werden: HWS-Bewegung in allen
Ebenen, Elevation der oberen Extremität, Test des Finger-Boden-Abstandes beim
„Vornüberbeugen“, Möglichkeit, aus dem Stand in die Hocke zu gehen und sich
selbst wieder aufzurichten, sowie Zehen- und Hackenstand.
Ergebnisse In 91,1% (n = 328) der Fälle war die Diagnose dem gleichen
Gelenk bzw. der gleichen pathologischen Entität zugeordnet. In 37,5% (n = 135)
der Fälle wurde eine Notfallindikation zur ärztlichen Vorstellung, in 10,8%
(n = 39) der Fälle eine dringliche Indikation gesehen und in 51,6% (n = 186) der
Fälle eine elektive Indikation gestellt. 12,5% (n = 45) der Fälle wurden „falsch
positiv“ hinsichtlich einer Notfallvorstellung oder dringlichen Vorstellung
evaluiert. Das bedeutet, dass die Probanden als „Notfall“ oder „dringlich“
eingestuft wurden, obgleich kein abwendbar gefährlicher Verlauf oder
medizinischer Notfall vorlag. 18 Fälle (5%) wurden als „falsch negativ“
bewertet.
Diskussion Der vorgestellte Screening-Fragebogen und das
Kurz-Video-Assessment sind technisch umsetzbare und praktikable Methoden zur
Erstevaluation vor der direkten, interaktiven videobasierten ärztlichen
Onlinekonsultation. Zudem waren bei den von uns bewerteten Probanden der
vorgestellte Fragebogen in Kombination mit dem Video-Assessment als Instrument
geeignet, die Behandlungsdringlichkeit einzuschätzen und abwendbar gefährliche
Verläufe und akute Notfälle zu selektieren.
Schlussfolgerung Der Fragebogen ist in Kombination mit dem
Video-Assessment während einer limitierten Zugänglichkeit des medizinischen
Systems eine geeignete Methode während des notwendigen Social Distancings. Eine
Rate von 5% falsch negativen, nicht korrekt eingeschätzten Patienten erscheint
den Autoren für die klinische Praxis nicht akzeptabel und sollte daher optimiert
werden.