… auch wollte ich ehe reiten, da mich kein Mensch nimmermehr erfaren müst. (Grimm und Grimm 1862, 788) Die Grimmsche Definition von Erfahren und Erfahrung im Sinne von Einholen (eines Fuhrwerkes oder eines Reiters) mag heute weder alltagssprachlich noch im kulturanthropologischen Gebrauch bekannt sein. Den Lauf dieser Dissertation versinnbildlicht sie dennoch. Meine Auseinandersetzungen mit den Themen Erfahrung, Expertise und Genesungsbegleitung wurden immer wieder erfaren: Ich habe mich selbst überholt, wurde von anderen eingeholt und überfahren, und so manches Mal bin ich mit dem Fuhrwerk stecken geblieben. Auf dieser Fahrt sind mir drei wesentliche konzeptionelle Herausforderungen begegnet, die ich vorab konturieren möchte. Da ist erstens die Frage, wie stark ich ›meine Erfahrungen‹ in dieser Arbeit darstellen möchte. Einerseits will ich kein Buch über mich schreiben, andererseits auch nicht suggerieren, dass ich einen omnipräsenten ethnografischen Blick auf Genesungsbegleitung hätte. Ich halte es mit Cheryl Mattingly (Mattingly 1998) und tauche als Autorin mal auf, mal wieder ab-wenn es sinnvoll für die beschriebene Situation und meine Argumentation ist. Daraus folgt zweitens die ethische Frage, welche Momente und Situationen meiner Feldforschung überhaupt Teil dieses Buches sein dürfen-spielte sie sich doch großenteils im sensiblen Umfeld psychiatrischer Kliniken ab. Zu meiner Feldforschung gehörten auch diverse Krisen: Die Ängste von Nutzerinnen gegenüber einem abstrakten und zunächst wenig alltagsrelevanten Forschungstelos ebenso wie die Ängste einer Feldforscherin, die mit extremen Situationen konfrontiert ist. Ein Nutzer, der überzeugt war, dass ich meine Doktorarbeit über ihn, und nur über ihn, schreiben würde. Mitarbeiterinnen, die mich in ihren ohnehin überladenen Alltag, integrieren wollten und sollten. Um das Ausmaß dieser Feldforschung abzustecken, habe ich mir eine Regel zu eigen gemacht, die sich eigentlich auf den gegenseitigen Umgang in Gruppentherapien innerhalb des Feldes bezog: »Störungen gehen vor« (FN I; 20.01.2013). Solche »Störungen« waren zwar Teil der Feldforschung, sie sind aber nur am Rande Teil dieses Buches. Ich schreibe eine Dissertation, um Erfahrungsexpertise im Ver-rückte Expertisen Kontext von Genesungsbegleitung zu beschreiben, nicht um psychische Krisenerfahrungen festzustellen und zu veranschaulichen. Eine dritte-für Ethnografien geradezu klassische-Frage stellt sich in Bezug auf die Reihenfolge der Kapitel in dieser Arbeit, die miteinander verschlungene Thematiken und gleichzeitige Prozesse in eine heuristische chronologische Reihenfolge fügt. Schlussendlich habe ich mich für eine konservative Gliederung in drei Teile-Darstellung des empirischen Feldes und methodologisches Vorgehen (Teil I), theoretische Ansätze (Teil II) und empirische Analyse (Teil III)-entschieden: weil dies eine Dissertation ist und Konventionen hier großgeschrieben werden. Aber auch, um meinen Kopf oben zu halten und mir einen Weg durch die Komplexität des Themas zu erfaren. 3 Ich verwende in dieser A...