Das Verhältnis zu Rußland war auf Grund elementarer Gegebenheiten innerhalb des europäischen Mächtesystems für Preußen im 18. und 19. Jahrhundert in gleich starkem Maße, allerdings doch in einem anderen Sinne von fundamentaler Bedeutung wie für das Deutsche Reich vom Beginn seiner Existenz an. Ohne die Rückendeckung durch Rußland wären der Sieg über Frankreich und die Gründung des Reiches nidit möglich gewesen. In dem bekannten Telegramm Kaiser Wilhelms I. an den Zaren Alexander II. vom 27. Februar 1871: "Preußen wird niemals vergessen, daß es Ihnen zu verdanken ist, wenn der Krieg nicht die äußersten Dimensionen angenommen hat" 1 , wurde dies erstmals unter dem unmittelbaren Eindruck des Geschehens offen formuliert. Die Erinnerung an diese Grundvoraussetzung hat der Kaiser stets bewahrt und ihr auch dann noch Ausdruck verliehen, als die Emanzipation des Reidies von Rußland längst die Grundlage der deutschen Politik war, so in der Orientkrise 1876, als Wilhelm I. dem Zaren schriftlich versicherte: "Die Erinnerung an Ihre Haltung mir und meinem Lande gegenüber von 1864 bis 1870/71 wird, was auch kommen mag, meine Politik Rußland gegenüber leiten."* Vor dem Hintergrund dieser mit wachsendem Abstand von der Reichsgründung immer mehr in Vergessenheit geratenen unaufhebbaren Abhängigkeit von Rußland sollen die seit der Bismarck-Zeit in der Rußland-Politik des kaiserlichen Deutschlands erwogenen und zum Teil realisierten "Alternativen" aufgezeigt und die wechselnde Dominanz der verschiedenen, mehr oder weniger klar durchdachten und ausformulierten "Konzeptionen" in den einzelnen Etappen von 1871 bis 1918 in ihren Ursachen und Begleiterscheinungen dargelegt werden. In einem ersten Teil werden die verschiedenen Möglichkeiten und Konzeptionen in systematisierter Form einander gegenübergestellt; in einem zweiten soll in knapper Form auf die wichtigsten Forschungsergebnisse zum Thema aus jüngster Zeit eingegangen werden. Im dritten und letzten Teil folgt schließlich eine Skizze des Hauptstrangs der deutschen Rußland-Politik in der Wilhelminischen Ära. Sie war nicht nur für das politische Bewußtsein der sozialen Führungsschicht in Deutschland im allgemeinen, sondern gerade auch für das deutsche Rußland-Bild im speziellen die am stärksten prägende und über den Untergang des Reiches, die Katastrophe von 1945 hinaus nachwirkende Epoche in der knapp 80jährigen Geschichte der preußisch-deutschen Großmacht.Ausgangspunkt zum Verständnis des Ganzen ist der grundlegende Wandel in der europäischen Mächtekonstellation durch die Reichsgründung, d. h. durch die Zusammenfassung des größten Teils Deutschlands unter Führung der noch Anfang der 1860er Jahre weitaus schwächsten europäischen Großmacht Preußen. Damit schien auch das bis dahin mehr oder weniger starke Abhängigkeitsverhältnis Preußens von Rußland, das seit der Zeit Friedrichs des Großen offenkundig gewesen war, aufgehoben und, jedenfalls im Selbstverständnis der politischen Führung des Deutschen Reiches und der sie tragenden * Vortrag vor der
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