I Die Vorgabe: Geselligkeit der Aufklärung aus sozial-ethisch-ästhetischer PerspektiveEs dürfte nicht schwerfallen, zum Thema Geselligkeit im 18. und 19. Jahrhundert eine ansehnliche Bibliothek zusammenzustellen. In dieser imaginierten Bibliothek würden die primären und sekundären Schriften zur romantischen Geselligkeit allenfalls einige Regale füllen. Die Vorstellung freier, autonomer Geselligkeit, wie sie Friedrich Schleiermacher in seinem inzwischen als "Grunddokument der frühromantischen Geselligkeitskonzeption" benannten Versuch einer Theorie des geselligen Betragens entwickelte, 1 war derart exklusiv, dass es nicht ohne Weiteres anschlussfähig an das die gesellige Kultur des 19. Jahrhunderts prägende Vereinswesen schien. Da lag es näher, in der Forschung eine Kontinuität von den Lesegesellschaften der Aufklärung zum Vereinswesen des 19. Jahrhunderts herzustellen. 2 Auch war die zu Beginn des 18. Jahrhunderts einsetzende Verschiebung von einer Staats-zur Privatklugheit und die daraus folgende (Er-)Findung eines kommunikativen und sozial-ethischen ‚Stils des Miteinander' derart faszinierend, dass sich die Forschung zur Geselligkeit verständlicherweise der Aufklärung und den damit aufgeworfenen naturrechtlichen, ethischen, anthropologischen, ästhetischen, verhaltens-und kulturtheoretischen Implikationen zuwandte. Das "Gesellige" avancierte zum Schlüsselbegriff des 18. Jahrhunderts. Seine "nicht am hierarchisch strukturierten" "‚Haus' oder Staat" orientierte Lebensweise, die -für die damalige Zeit ungewöhnlich -"nicht auf Verhältnissen der Abhängigkeit" beruhte, 3 eröff-nete einen Projektionsraum für Theorien, utopische Projekte und kulturpraktische Versuche. Verschiedene Ansätze zu einer theoretischen Fundierung der Geselligkeit als appetitus societatis oder als imbecillitas, d.i. Kompensation für eine angeborene menschliche Schwäche oder einfach als "Seinsweise der Vernunftnatur", 4 wurden begleitet von praxeologischen Erprobungen. Von den "moralischen Wochenschriften" bis zur "Popularphilosophie" und den Benehmensbüchern der Zeit stand "Geselligkeit" für die Ausrichtung einer "Lebensführung", die, wenn auch in noch so beengtem oder marginalisiertem Assoziationsrahmen, die praktische Erprobung einer Balance von Selbstbehauptung und Empathie versprach. Anstelle der höfischen Verstellungskunst schuf das sich etablierende Geselligkeitskonzept der Aufklärung "Vertrauen" und "Zuverlässigkeit im Sozialen". 5 Das Postulat, das eine der moralischen Wochenschriften mit dem Titel Der Gesellige aufstellte: "Wir wollen eine wahre Republik in dem geselligen Leben errichten", 6 bündelte ein sozialethisches, utopisches Versprechen, indem "Gleichheit statt Rangabstufung, Freiwilligkeit statt Anordnung, Verdienstbewußtsein statt Gratifikation, Vernünftigkeit statt Willkür, Vertrauen statt Angst, Empathie statt Affekt" 7 herrschen sollte. Geselligkeit als Etablierung eines neuen Lebensstils, in dem an die Stelle der Standardisierung und Reglementierung des Verhaltens eine selbstbestimmtere, freiere Form der Gemeinsinnspflege t...
Angesichts der Kaiserkrönung Napoleons war es möglich, daß mancher anwesende ehemalige Revolutionär gedacht haben könnte: Und die Aufklärung hat doch recht! Condorcet nämlich hatte in La Vie du M Turgot fur die Aufklärung beispielhaft das Krönungszeremoniell kritisiert und vor seinen gefahrlichen Langzeitfolgen gewarnt. In einer friedlichen Zeit, so schreibt Condorcet, mögen solche Vorurteile, wie Zeremonien es nun einmal sind, bloß kindisch zu nennen sein; in einer Zeit der Krisen können dagegen ihre Folgen schrecklich sein. l Condorcet spielt mit der Warnung vor den Folgelasten in Krisenzeiten auf die Möglichkeit an, durch Weihung einen Usurpator zu legitimieren. 2 Die Rede des Senatspräsidenten Fran90is de Neufchateau einen Tag vor der Krönung Napoleons, also am 1. Dezember 1804, hätte die Befurchtungen Condorcets bestätigen können. Denn dieser Redner, einst als Mitglied des Nationalkonvents ein radikalet Antiklerikaler, wird jetzt in seiner Eigenschaft als Senatspräsident in Anwesenheit Napoleons eine Apologie des bevorstehenden Krönungsfestes halten und mit größter rhetorischer Finesse den Übergang von der Republik zur kaiserlichen Dynastie rechtfertigen.Der interessierte deutsche Leser konnte die Vorbereitung und den Verlauf der umfangreichen, die Krönung selbst weit überschreitenden Zeremonien bis ins einzelne verfolgen. Die Kaiserlich und Kurpjalzbairisch privilegirte Allgemeine Zeitung berichtete detailliert (mit einer durchschnittlich achttägigen Verspätung). So ist in ihr auch diese als "merkwürdig" eingestufte Rede des Senatspräsidenten ausfuhrIich, zunächst in einer Zusammenfassung, dann in "Auszüge[n]", dokumentiert. 3 Fran90is de Neufchateaus Rede kann als ideologisches Innenfutter fur die Außenseite der großangelegten Zeremonien gelten. Denn hier wird der Gründungsakt einer neuen demokratisch legitimierten dynastischen Regierungsform gefeiert. Nachdem, I
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