gung eine viel schärfere Abstraktion und Organisierung. Der alte Roman deckte Partialgebiete; er war Bildungs-, war Sozial-, war Seelenroman und zu seinen großen Leistungen ist zu zählen, daß er in diesen Partialgebieten vielfach Vorläufer der Wissenschaft, besonders der psychologischen gewesen ist. Heute, in einer Zeit ausgesprochener Radikalität, gibt es keine belletristische Pseudowissenschaftlichkeit mehr, und die vom Roman vermittelten Erkenntnisse dieser Art sind bestenfalls popularisierende Platitüden. Dagegen vermag die Wissenschaft keine Totalitäten zu liefern, vielmehr muß sie eben das der Kunst, also auch dem Roman überlassen. Die Totalitätsforderung an die Kunst hat hiedurch eine früher ungeahnte Radikalität gewonnen, und um ihr zu genügen, benötigt der Roman eine Vielschichtigkeit, zu deren Etablierung die alte naturalistische Technik sicherlich nicht ausreicht: der Mensch in seiner Ganzheit soll dargestellt werden, die ganze Skala seiner Erlebnismöglichkeiten, angefangen von den physischen und gefühlsmäßigen bis hinauf zu den moralischen und metaphysischen, und damit wird unmittelbar ans Lyrische appelliert, da nur dieses die hiefür nötige Prägnanz aufzubringen imstande ist. Und dies ist auch einer der Gründe, die hier zur Einschaltung der lyrischen "Stimmen" geführt haben, um so mehr als Novellen an sich keine Lebenstotalitäten, sondern Situationstotalitäten geben, sich auch nicht durch Addition darin ändern, wohl aber ihren weiteren Sinn zu enthüllen vermögen, wenn sie in ein rein lyrisches Medium, dem solche Sinngebung aufgetragen wird, eingebettet werden, wie dies eben hier geschehen ist. Soferne das geglückt ist, darf die damit erzielte Totalitätsdarstellung wohl als Roman bezeichnet werden. [...] 22 WALTER BENJAMIN: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows (1936) [...] Das früheste Anzeichen eines Prozesses, an dessen Abschluß der Niedergang der Erzählung steht, ist das Aufkommen des Romans zu Beginn der Neuzeit. Was den Roman von der Erzählung (und vom Epischen im engeren Sinne) trennt, ist sein wesentliches Angewiesensein auf das Buch. Die Ausbreitung des Romans wird erst mit Erfindung der Buchdruckerkunst möglich.