Rüdiger Schnell (Basel) Lateinische und volkssprachliche Vorstellungen. Zwei Fallbeispiele (Nationsbewußtsein; Königswahl) Daß sich im Mittelalter eine monastische Vorstellungswelt von einem adeligen, städtischen oder bäuerlichen Weltverständnis abgrenzen lasse, dieser Behauptung wird man kaum widersprechen wollen. Doch je schärfer unser Blick wird, desto fragwürdiger drohen solche Abgrenzungen zu werden: im Früh-und Hochmittelalter sind Kloster und fürstlicher Hof durch vielfache Bindungen (Verwandtschaft, Verwaltung, Wirtschaft) eng miteinander verknüpft; im Spätmittelalter bilden Mönchsbewegungen einen charakteristischen Bestandteil städtischen Lebens; Klosterchroniken atmen den Geist adligen Selbstbewußtseins; Kleriker künden als Verfasser von Städtechroniken von städtischem Selbstverständnis. Dem Versuch, einen Abriß des Selbstverständnisses verschiedener sozialer Gruppierungen des Mittelalters zu skizzieren, stehen also einige methodologische Schwierigkeiten entgegen. Es bietet sich an, zunächst auf Texte mittelalterlicher Autoren selbst zurückzugreifen, in denen ein soziales Ordnungs-und Wertesystem der Zeit entworfen wird. Doch können auch die mittelalterlichen Äußerungen etwa zum dreischichtigen Aufbau der »Gesellschaft« nur Theorie-Charakter beanspruchen und sind ihrerseits auf die sie jeweils bedingenden Voraussetzungen zu befragen. 1 Niemand heute wird ihnen unterstellen, sie zeichneten ein adäquates Bild der mittelalterlichen Realität bzw. der Vorstellungswelt aller gesellschaftlicher Gruppen. Wir haben es hier mit Entwürfen unterschiedlicher Art zu tun. Ob in Chroniken oder in Predigten, ob in Traktaten oder Legenden, in Lehrgedichten oder Briefen, in jedem Einzeltext tritt uns zunächst der Normhorizont eines einzelnen Autors entgegen, den 1 GEORGES DUBY, Les trois ordres ou l'imaginaire du féodalisme, Paris 1978; JACQUES LE GOFF, Bemerkungen zur dreigeteilten Gesellschaft, monarchischen Ideologie und wirtschaftlichen Erneuerung in der Christenheit vom 9. bis 12. Jh., in: MAX KERNER (Hg.), Ideologie und Herrschaft im Mittelalter (WdF 530), Darmstadt 1982, S. 408-420; OTTO GERHARD OEXLE, Die funktionale Dreiteilung der Gesellschaft bei Adalbero von Laon. Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im früheren Mittelalter, Frühmittelalterliche Studien 12 (1978) 1-54, gekürzt und bearb. wiederabgedruckt in: M. KERNER (Hg.), Ideologie und Herrschaft im Mittelalter, S. 421-474; TILMAN STRUVE, Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung im Mittelalter (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 16), Stuttgart 1978; ders., Pedes rei publicae. Die dienenden Stände im Verständnis des Mittelalters, HZ 236 (1983) 1-48; PAUL EDWARD DUTTON, Illustre civitatis et populi exemplum. Plato's Timaeus and the transmission from Chalcidius to the end of the twelfth century of a tripartite scheme of society, Mediaeval Studies 45 (1983) 79-119; OTTO GERHARD OEXLE, Tria genera hominum. Zur Geschichte eines Deutungsschemas der sozialen Wirklichkeit in Antike und Mittelalter, in: Institutionen, Kultur und Gesellscha...