ZusammenfassungUntersucht wird die ‚Vergegenständlichung‘ authentischer Akten in den Causes célèbres Gayots de Pitaval. Die Verbindung von historisch Wahrem und deviant Wunderbarem erweist sich als geeignetes Material, um spannende Unterhaltung mit aufklärerischer Unterweisung zu verbinden. Ein Publikum aus angehenden Fachgelehrten und juristischen Laien erhält so Einblick in die ansonsten verschlossene Sphäre des schriftlichen Inquisitionsprozesses. Dabei ist Gayots Vorgehen nach den jeweils aufgegriffenen Textsorten des Rechtswesens und der Justiz eigens zu differenzieren. Der wörtlichen Übernahme gerichtlicher Urteile steht der freie Zugriff auf anwaltliches Schrifttum gegenüber. Formt Gayot seine Erzählungen insgesamt angelehnt an die rechtspraktische Form der ‚Relation‘, tritt bei der verlegerischen Umsetzung in Buchform eine technische Dimension der ‚Vergegenständlichung‘ hinzu. Die Analyse anhand der erweiterten Ausgabe von Guillaume Cavelier (Causes célèbres et intéressantes, avec les jugemens qui les ont décidées. Guillaume Cavelier, Paris, 1735) und einer anonymen deutschen Übersetzung (Causes Celebres, oder Erzählung sonderbarer Rechtshändel, sammt deren gerichtlichen Entscheidung. Gottfried Kiesewetter, Leipzig, 1747) steht damit am Schnittpunkt von law in literature und material philology. Betont die verlegerische mise en livre dieser frühen Ausgaben die Agonalität der Prozesse und legt einen intendierten Gebrauch gerade auch durch Juristen nahe, unterstützt die typographische Gestaltung späterer Bearbeitungen die erzählerische Stringenz. Jedoch lässt sich für die Fassung von François Richer (Causes célèbres et intéressantes, avec les jugemens qui les ont décidées. Rédigées de nouveau. Michel Rhey, Amsterdam, 1772) und deren von Friedrich Schiller herausgegebenen Übersetzung (Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit. Nach dem Französischen Werk des Pitaval durch mehrere Verfasser ausgearbeitet und mit einer Vorrede begleitet herausgegeben von [Friedrich] Schiller. Christian Heinrich Cuno’s Erben, Jena, 1792) nur bedingt von einer ‚Literarisierung‘ sprechen. Eher reagieren sie auf die Reformen des Strafrechts in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Recht und Literatur werden von einer Ausgabe zur nächsten semantisch wie buchgestalterisch jeweils aufs Neue ins Verhältnis gesetzt.
Am Beispiel der Pitavalgeschichte des Marquis de la Pivardiere ist der Beitrag der asymmetrischen Verhorsituation im Inquisitionsverfahren gewidmet1. Untersuchungsrichter und Protokollant verdichten die Aussagen der Magde des Marquis zu einer juristisch belastbaren Erzahlung des Tathergangs. Gezeigt wird, wie sich in der Fassungsgeschichte (Gayot de Pitaval, Friedrich Schiller, Neuer Pitaval) der Wandel zum reformierten Strafprozess spiegelt. Der in den Akten dokumentierte Manipulationsvorwurf dient bei Gayot zur Mahnung an eine formstrenge Durchfuhrung des Verfahrens, wahrend Schiller darin einen anthropologisch verwertbaren Einblick in die Psyche des Tatersubjekts erkennt. Der neue Pitaval disqualifiziert das Inquisitionsverfahren im Ganzen, um ihm die preu.ische Rechtspraxis entgegen zu stellen.
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