Wie ist es zu erklären, wenn etwa ein Stellvertretender Bürgermeister von Peking und Vorsitzender der städtischen Planungskommission am 4. April 1995 mit einer Pistole neben sich tot aufgefunden wird? Regierungsbeauftragte hatten Wang Baosen zuvor zu einem sogenannten "Wirtschaftsvergehen", einer Korruptionsaffäre, befragt. Korruption, in die Beamte verwickelt sind, zählt zu den Wirtschaftsvergehen, die mit dem Tod bestraft werden. Doch scheinen Mitglieder der Kommunistischen Partei Chinas weniger hart bestraft zu werden als normale Staatsbürger. Als "Anti-Korruptions-Kampagnen" deklarierte Säuberungen hatten der Kommunistischen Partei Chinas schon immer als Mittel gedient, um Gegner innerhalb der Partei auszuschalten. Die auf diese Weise verfolgten Beamten haben oft keine größere Schuld an Wirtschaftsverbrechen als andere, sondern ihre Schuld besteht darin, der falschen Gruppierung innerhalb der Partei anzugehören. Wang Baosen befürchtete offenbar die Exekution und wählte die Alternative Suizid. Die Möglichkeit, Suizid zu verüben, stellt einen Akt der Gnade dar, der Wang Baosen als Privilegiertem gewährt wurde. Am 1. Mai 1995 wurde im Fortgang der Kampagne die Selbsttötung eines weiteren hohen Funktionärs, des Parteisekretärs von Guizhou, Liu Zhangwei, gemeldet. Als auch Deng Xiaopings Sohn, Deng Zhifang, in Verdacht geriet, an der Korruptionsaffäre beteiligt zu sein, versuchte seine Mutter, Zhuo Lin, sich am 6. Mai 1995 das Leben zu nehmen. 1 1 Die Kampagne war gegen einen weiteren Stellvertretenden Bürgermeister von Peking, Zhang Baifa, und den Parteichef von Peking, Chen Xitong, gerichtet, der zugleich Mitglied des Politbüros war und der am 27. April 1995 abgesetzt und unter Hausarrest gestellt wurde. Die Korruptionsaffäre kam Jiang Zemin im Kampf um die Deng Xiaoping-Nachfolge sehr gelegen. Jiang war bis 1989 Parteichef in Shanghai und mußte nun in Peking politisches Terrain gewinnen. Auf Korruption als Wirtschaftsvergehen steht im Falle von Beamten nach Art. 155 des Strafgesetzbuches der VR China von 1979, bzw. nach §383, Abs. 1, Ziff. 1, sowie §386 des Strafgesetzbuches der VR China von 1997 der Tod (Scobell 1990, S. 508, S. 517; bzw. Strupp 1998, S. 71, 115,230, 232). Nicht nur in der Härte der Strafen, sondern auch in den Privilegien unterscheiden sich die Staaatsbeamten und die Parteikader nicht wesentlich von den kaiserlichen Beamten früher. Zu diesen Privilegien gehört der Suizid als Alternative zur Exekution. (Scobell 1990, S. 517; Balazs 1954 [1964], S. 169). Mit Ausnahme des englischen Dienstes der Nachrichtenagentur Xinhua und der China Daily (eine Kurzmeldung) hatten chinesische Zeitungen bis zum 19. April 1995 überhaupt nicht von der Korruptionsaffäre berichtet. Die chinesischen Medien waren angewiesen worden, Vorsicht bei der Berichterstattung walten zu lassen. Es berichteten die South China Morning Post (nicht verfügbar) am 09.