Ingenieurwerkstoffe neigen bei erhöhten Temperaturen zusätzlich zum elastischen Verhalten zum Kriechen oder, mit anderen Worten, man kann neben einer spontanen Werkstoffreaktion auch eine zeitabhängige beobachten. Unter Berücksichtigung der wachsenden Sicherheitsanforderungen für Kraftwerke, Flugzeugkomponenten, chemischen Anlagen usw. ist das zeitabhängige Werkstoffverhalten in den Konstruktionsprozess einzubeziehen.
Zahlreiche Bauteile, die unter Kriechbedingungen eingesetzt werden, können als dünnwandig klassifiziert werden. Ihre Analyse ist dann mit drei Problemen verbunden: mit der Auswahl eines geeigneten Werkstoffmodells, mit der Auswahl eines adäquaten strukturmechanischen Modells und mit der Auswahl eines geeigneten numerischen Lösungsverfahrens. Dabei besteht eine enge Verbindung zwischen den drei Problemen. Beispielsweise hat die Auswahl des strukturmechanischen Modells (Balken, Platte, Schale usw.) signifikanten Einfluss auf den numerischen Aufwand. Andererseits wird die Berechnungsgenauigkeit durch das Materialverhaltensmodell beeinflusst, wenn verschiedene Effekte einbezogen oder vernachlässigt werden.
Die Kriechmechanik als Zweig der Festkörpermechanik hat eine mehr als einhundertjährige Geschichte. Nach einer kurzen Diskussion der geschichtlichen Entwicklung sowie der Anführung ausgewählter Referenzliteratur werden zwei Modelle zur Beschreibung des Kriechverhaltens eingeführt. Das erste Modell ist dadurch gekennzeichnet, dass die Art des Spannungszustandes keine Rolle bei der Beschreibung des Materialverhaltens spielt, während in die Formulierung des zweiten Modells eine derartige Abhängigkeit eingeht. Ein typisches Beispiel für das zweite Modell ist ein unterschiedliches Zug‐ und Druckverhalten. Dieses kann beispielsweise im Tertiärkriechbereich vorausgesetzt werden, da eine Schädigung durch Zugbedingungen gefördert wird. Wenn man Druckbedingungen antrifft, können Kriechverzerrungen auftreten, der Schädigungszustand ist jedoch teilweise eingefroren (u.a. kein Auftreten neuer Hohlräume).
Der letzte Teil ist strukturmechanischen Modellen gewidmet. Für dünnwandige Strukturen werden in der Regel alle Annahmen in Übereinstimmung mit der “Dünne” der Struktur getroffen. Damit kann man beispielsweise Hypothesen für die Spannungen, Verzerrungen und/oder Verschiebungen in Dickenrichtung einführen, und es werden zu lösende Gleichungen abgeleitet, die bezüglich der Dimension reduziert sind (statt dreidimensionaler Feldgleichungen hat man ein System von zwei‐ oder eindimensionalen Feldgleichungen). Über die Korrektheit und Genauigkeit dieses Konzepts wird berichtet.