ULF ABRAHAM ,,Die strafenden Blicke eines vergehenden Glaubens!' Kafka und die Thora -I. ,,1942. Ich bin neun Jahre alt. Mein Hebräischlehrer, Dr. Kafirn, ist neunundfünfzig. Für die kleinen Jungen, die jeden Nachmittag ,von vier bis fünf' an seinem Unterricht teilnehmen müssen, heißt er -nicht zuletzt auch wegen seiner seltsam zurückgezogenen und melancholischen Art, vor allem aber, weil wir an ihm unsere Wut darüber auslassen, daß wir hier eine uralte Kalligraphie lernen müssen, während wir uns doch gleichzeitig auf dem Sportplatz herumtreiben und uns die Zunge aus dem Hals schreien sollten -nur: Dr. Kishka. Diesen Namen hat er, ich gestehe es, von mir. Sein saurer Atem, der so gegen fünf Uhr nachmittags noch zusätzlich mit Darmsaft gewürzt ist, verleiht diesem jiddischen Ausdruck für ,Innereien' ganz besondere Intensität, wie ich finde:' 1Natürlich wissen wir, daß der amerikanisch-jüdische Romancier Philip Roth, von dem diese fiktive Kindheitsgeschichte stammt, neun Jahre nach Kafkas Tod geboren ist; und wir wissen, daß Kafka -im Gegensatz zu seinem ersten Romanhelden Karl Roßmann -nicht nach Amerika verschlagen wurde. Hätte der Prager Jude und Versicherungsbeamte freilich Roths Geburtsjahr (1933) erlebt und überlebt, so stecken das Ende