Innovative Psychotherapieforschung: auf dem Weg zu einer evidenz- und prozessbasierten individualisierten und modularen Psychotherapie

Abstract

Zusammenfassung Psychotherapie ist nachweislich wirksam. Diese Aussage trifft jedoch insbesondere auf den „Durchschnittspatienten“ in randomisiert-kontrollierten Studien zu. Da trotz der stetigen Entwicklung neuer Therapiemethoden konstant ein beträchtlicher Anteil an Patienten nicht profitiert und die Wirkmechanismen noch zu wenig verstanden werden, gilt es, innovative Psychotherapieforschung zu initiieren, die beide Probleme adressiert. Dabei sollte der aus der somatischen Medizin stammende Gedanke der Personalisierung – oder aus unserer Sicht passender – der Individualisierung bzw. Personenzentrierung aufgegriffen werden. Nach einem Überblick über Weiterentwicklungen der Psychotherapie jenseits störungsspezifischer Methoden stellen wir als visionäres Ziel psychotherapeutischer Forschung eine evidenz- und prozessbasierte individualisierte und modulare Psychotherapie vor: Jenseits der Syndrome und Störungen sollten möglichst viele biopsychosoziale Charakteristika und die den psychischen Problemen zugrunde liegenden Prozesse bzw. Mechanismen analysiert und in einer individuellen umfassenden funktionellen Analyse gebündelt werden. Auf Basis dieser Funktionsanalyse sollten evidenzbasierte Techniken und Module ausgewählt werden. Das individuelle Ansprechen im Therapieverlauf ist kontinuierlich zu dokumentieren, sodass durch Feedback das weitere therapeutische Vorgehen mitbestimmt wird. Zur Verfolgung dieser Vision werden Studien benötigt, welche an dem individuellen Patienten orientiert sind, die zentralen Wirkmechanismen untersuchen, translational große Datensätze generieren, die auch durch idiographische Analysen ausgewertet werden, sowie die Kluft zwischen Forschung und Praxis mindern und damit zu dem derzeit zu Recht ins Zentrum der Forschung rückenden Paradigma der praxisbezogenen Forschung beitragen.

How does early symptom change predict subsequent course of depressive symptoms during psychotherapy?

“…We believe that when applying mathematical models to psychotherapy research that allow for individual symptom courses of patients rather than only linear modelling of (linear) pre–post effects, we will find more clarification regarding the question who responds to treatment and when. Innovative psychotherapy research is already working on evidence‐based and process‐based individualized and modular psychotherapy (see for example Brakemeier & Herpertz, 2019; Lutz et al., 2019).…”

Der Ozean der evidenzbasierten personalisierten Psychotherapie und seine Wellen

“…Die Fokussierung auf RCTs und Metaanalysen leistet zwar einen wichtigen Beitrag, indem sichere Aussagen vor allem über die kurzfristige Wirksamkeit der Psychotherapie geliefert werden, doch lassen sich nicht alle für eine evidenzbasierte Psychotherapie relevanten Fragen durch diesen Forschungsstrang beantworten (für Übersichten s. [2,3]). Zudem fallen trotz der nachgewiesenen Wirksamkeit von Psychotherapie bei psychischen Erkrankungen die individuellen Ansprechraten auf evidenzbasierte Psychotherapien sehr unterschiedlich aus.…”

“…Für die weitere Evolution der Psychotherapie und der Psychotherapieforschung erscheint es nun nicht mehr zielführend, immer weitere (vermeintlich) neue Ansätze auf dem Markt zu bringen. Vielmehr gilt die Anpassung von den bereits existierenden, sorgsam entwickelten Psychotherapieverfahren und -methoden (auch die als vierte Welle bereits diskutierten) hinsichtlich patient*innenspezifischer Charakteristika als vielversprechende Herausforderung, was auch unter den Begriffen Precision Mental Health, Tailoring Treatments, Enhanced Psychotherapy (s. Editorial PSYCH up2date des Hefts 3/2021 [9]) oder Personalized Therapy international diskutiert wird [3].…”

“…Inmitten der derzeit fünften Welle der COVID-19 Pandemie erscheint es mir auch nicht mehr zeitgemäß, den Wellenbegriff für die Psychotherapie und die Psychotherapieforschung weiter aufrechtzuerhalten, wobei ich im Folgenden einen Vorschlag anführen möchte, den ich erstmals bei einem eingeladenen Vortrag auf dem DGPPN Kongress 2019 zur Sprache gebracht habe (vgl. auch [3]) und seitdem mit meinen Mitarbeitenden in Greifswald und zahlreichen kooperierenden Kolleginnen und Kollegen weiter verfolge.…”

Der Psychotherapeut und Nervenarzt Ernst Jolowicz (1882–1958): Eine internationale Karriere im Schatten von Antisemitismus und Emigration

“…Besonders die individualtherapeutischen Ansätze seiner Persönlichkeitsanalyse sowie das psychagogische Konzept, psychische Störungen als Teil der sich im Kontext einer Erkrankung wandelnden und dynamischen Persönlichkeit eines Menschen zu betrachten, befassen sich mit der seit einigen Jahren wieder vehement geforderten personenzentrierten Psychotherapie und Psychiatrie. Diesem Ansatz der individuellen, unmittelbar am jeweiligen Betroffenen orientierten Therapie wird gegenwärtig das höchste Innovationspotenzial für die Zukunft des Faches zugemessen ( [58], [59]). Den zuweilen die Patienten aus den Augen verlierenden, dogmatischen Haltungen seiner Zeit -denken wir beispielsweise an die persönlichen Befindlichkeiten der Anhänger Jungs und Freuds -stellt Jolowicz seine zutiefst undogmatische Sichtweise entgegen.…”