ZusammenfassungRusslands Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 legt die Diagnose eines imperialistischen Eroberungskrieges nahe. Gleichzeitig fristen imperialismustheoretische Zugänge zur russländischen Außenpolitik ein widersprüchliches Nischendasein. So führen die kritischen Sozialwissenschaften Imperialismus maßgeblich auf kapitalistische Entwicklungsdynamiken und die Hegemoniebestrebungen der USA im 20. und 21. Jahrhundert zurück. Politologische und soziologische Ansätze hingegen fokussieren auf die ideologische Dimension des Imperialismus oder normalisieren imperialistische Außenpolitiken in transhistorischen Imperien-Typologien. Aufbauend auf einer Kritik bestehender Deutungsangebote unternimmt der Beitrag einen Bestimmungsversuch des russländischen Imperialismus seit den späten 2000er Jahren. Dabei wird das Argument entwickelt, dass sich in Russland vor dem Hintergrund einer Doppelkrise der Rentenökonomie und der politischen Legitimation seit 2008 ein regressives souveränistisches Projekt fomiert hat, das auf militaristische Politik zur eigenen Reproduktion angewiesen ist. Außenpolitisch kristallisierte sich diese Regression insbesondere um die Formulierung und versuchte Umsetzung imperialer Verfügungsansprüche über die Ukraine. Erklärungen, die auf das Axiom eines globalen oder russländischen Kapitalismus oder die atavistische Ideologie der russländischen Staatselite rekurrieren, bleiben jedoch defizitär. Alternativ greift der Beitrag auf jüngere historisch-soziologische Zugänge zur Außenpolitik sowie Konzepte der älteren Historischen Sozialwissenschaft in den deutschen Internationalen Beziehungen (IB) zurück und schlägt einen historisierenden Zugang zur Rekonstruktion von Außenpolitik vor. Dieser betont neben der fundamentalen Kontextgebundenheit internationaler Politik die prozesshafte Ko-Konstitution krisenhafter sozioökonomischer Entwicklung, strategischer Elitenprojekte der Herrschaftslegitimierung und Geopolitik.