Zusammenfassung
Der Rechtswissenschaftler Hans Kelsen steht aufgrund seiner berühmt-berüchtigten Kritik an Eugen Ehrlich ebenso wie seiner Verneinung der Möglichkeit eines soziologischen Staatsbegriffs im Ruf eines Kritikers, wenn nicht gar Feinds der Soziologie. Kaum vereinbar mit dieser Rezeption erscheint, dass sich der historische Kelsen im Jahre 1929 bemühte, Soziologe zu werden. Kelsen hätte sogar fast den Ruf auf die Oppenheimer-Nachfolge an der Universität Frankfurt erhalten. Dieses biographische Detail wird zum Anlass genommen, Hans Kelsens Soziologieverständnis in den 1920er Jahren zu untersuchen. Eine Spurensuche im Archivmaterial des Berufungsverfahrens sowie in Kelsens wichtigsten Monographien aus dieser Zeit ergibt, dass sich Kelsen selbst als Soziologe bezeichnete und einem „geisteswissenschaftlichen Verständnis“ der Soziologie verpflichtet sah. Dieses Soziologieverständnis Kelsens wird anhand verschiedener in seinen Schriften formulierter Anti-Standpunkte sowie seiner positiven Beschreibung des Aufgabenfelds der Soziologie ausführlich rekonstruiert. Kelsen zufolge kommt der Soziologie eine doppelte Aufgabe zu: Einerseits beschreibt sie normative Eigengesetzlichkeiten, andererseits verfolgt sie die kausalwissenschaftliche Fragestellung, unter welchen tatsächlichen Bedingungen eine Normvorstellung wirksam wird. Insgesamt ergibt sich hieraus der überraschende Befund, dass Kelsen in den 1920er Jahren eine Hinwendung zur Soziologie vollzog.