Gemeinsprachlich wird ein Gegenstand als ‚kurz' bezeichnet, wenn er "von [vergleichsweise] geringer räumlicher [bzw. zeitlicher] Ausdehnung, Länge" (Duden 2006) ist. ‚Kurz' ist der Rock, der nicht bis übers Knie (die Mitte des Beines) reicht, oder die Pause, in der man zwar verschnaufen, sich aber nicht erholen kann. Zur Erholung bzw. Verdauung gibt es den ‚Kurzen', bei dem man trotz der geringen Menge an Flüssigkeit dennoch nicht "zu kurz" kommt, da es sich um hochprozentigen Alkohol handelt. Allerdings ist Alkohol bekanntlich nur in Maßen zu empfehlen, und wer sich beim Trinken nicht an Aristoteles' Prinzip der "vernünftigen Mitte" hält, 2 der macht es bestimmt nicht lang... Aus diesen Beispielen ersieht man, dass die gemeinsprachliche Bedeutung von Kürze sich auf einen Durchschnitt bezieht, der sich intuitiv bzw. kulturell bestimmen lässt. Ähnlich liegen die Dinge bei der Kürze sprachlicher Zeichen. So wird wohl kaum jemand zögern, ein Wort wie Bau als kurz, Wohnungsbauunternehmen dagegen als lang zu bezeichnen. Ebenso unbestritten ist, dass Sätze in Thomas Manns Romanen im Durchschnitt länger sind als Eingaben in Kurznachrichten. 3 Wie steht es nun mit der Verwendung von Kürze als sprachwissenschaftlichem Terminus? Betrachten wir die Wörter Vokuhila (Bezeichnung für eine Frisur, bei der die Haare vorne kurz, hinten lang sind) und Alkohol. Obwohl das erste aus mehr Phonemen und Silben besteht, wird ihm aus wortbildungstheoretischer Sicht das Merkmal ‚kurz', dem zweiten das Merkmal ‚lang' zugeschrieben, weil es umgangssprachlich zu Alk reduziert wird. Um es kurz zu fassen: Sprachwissenschaftlich gesehen ist das längere Wort kurz und das kürzere lang. Das Beispiel zeigt, dass der Bezug auf eine mittlere Größe kein unabdingbares Kriterium sprachlicher Kürze ist. In der Sprachwissenschaft beinhaltet Kürze nicht nur ein Quantitätskriterium, sondern auch ein kategorienbildendes Merkmal sprachlicher Einheiten, die be-1 Dieser Beitrag ist die stark erweiterte Fassung eines Vortrags, den ich am 27. Januar 2011 an der Universität Grenoble 3 gehalten habe. Den Teilnehmern des Kolloquiums danke ich für ihre Hinweise und Anregungen. Auch den Gutachtern der Zeitschrift Lili möchte ich für ihre konstruktiven Kommentare herzlich danken. 2 Näheres zum aristotelischen Begriff der ‚Mitte' vgl. Düwell et al. (2006, S. 74f.). 3 Sprachkritiker greifen immer wieder auf solche Vergleiche zurück, um die Entwicklung hin zum kurzen Satz zu bemängeln. Vgl. folgende Stelle im Spiegel-Artikel "Deutsch for sale": "In den Sätzen von Goethe und Heine lag die durchschnittliche Zahl der Wörter noch bei 30 bis 36; Thomas Mann brilliert in dem Romanzyklus ‚Joseph und seine Brüder' mit einem Rekordsatz, der 347 Wörter umfasst. Heutige Zeitungstexte begnügen sich mit 5 bis 13 pro Satz. Auf dem Boulevard, doch auch im seriöseren Radio und Fernsehen ist der simple Vier-Wörter-Satz Trumpf. Muster: ‚Der Nahe Osten brennt.' Steuern wir auf das Ideal der Comic-Sprechblase zu, etwa nach der grellen Vorlage ‚Wow! Echt voll wooky!'?" (Schreiber 2006, S. 184).