ZusammenfassungDer Artikel diskutiert die Erarbeitung einer wissenschaftlich kohärenten, international als widerspruchsfrei anerkannten Diagnostik milder Verlaufsformen für Schizophrenie im Lauf des 20. Jahrhunderts mit besonderem Augenmerk auf die sogenannte blande Schizophrenie, die in der UdSSR der 1970er und 1980er Jahre als Mittel zur politisch motivierten Einweisung von Menschenrechtsaktivist*innen herangezogen wurde. Das Argument verfolgt die sluggish schizophrenia, eine Schöpfung des sowjetischen Psychiaters Andrey Snezhnevsky, von ihrer Entstehung im hochproduktiven internationalen Umfeld der Expert*innen-Netzwerke des frühen 20. Jahrhunderts über die inhaltliche Entkopplung und den begrifflichen Wandel in der epistemisch isolierten sowjetischen Psychiatrie. Dieser Wandel wird auch anhand der Fallstudie mit der Internationalen Klassifikation (ICD) der Krankheiten (durch die Weltgesundheitsorganisation erlassen) veranschaulicht. Anschließend wird anhand verschiedensprachiger Ausgaben der neunten ICD-Revision der Versuch seitens sowjetischer Expert*innen rekonstruiert, international akkordierte Termini an die landesinternen politischen Gegebenheiten anzupassen und die sonst umstrittene blande Schizophrenie für den heimischen Gebrauch zu legitimieren.