2S exualität als Thema der FrauenbewegungIm letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beförderten die in mehreren europäischen Gesellschaften entstehenden Frauenbewegungen vielfältige Diskussionen über Geschlechterverhältnisse. 130 Eine langsam,aber stetig zunehmende ökonomische Unabhängigkeit vonF rauen des Bürgertums, bedingt nicht zuletzt durch vermehrte Möglichkeiten, sich Bildung anzueignen, führtenauch zu einem Wandel in bürgerlichen Beziehungskonzepten, der die Ehe als reine Versorgungsgemeinschaft in den Hintergrund rücken ließ.Im Zuge der bereits einleitend thematisierten Popularisierung vonS exualitätskonzepten gegen Ende des Jahrhunderts veränderten sich in Frauenbewegungskontexten die Bedingungen des Sprechens über Fragen der sogenannten Sittlichkeit und Sexualität. Wase inige Jahre zuvor nochd ie Grenzen der Sittsamkeit überschritten hatte, konnte bald auch in der Frauenbewegung diskutiert werden. 131 Die Prostitution 132 wurde dabei zu einem Vehikel für das Sprechen über Sexualität. Ziel dieses Abschnittes ist es, einen ersten grundlegenden Einblick in jene Debatten zu geben, in die Aktivistinnen -entlang der Themen Sittlichkeit, Prostitution, Ehekritik, Sexualreform und Bevölkerungspolitik -intervenierten, und sich mit sexualwissenschaftlichen Diskursinhalten auseinandersetzten.Um 130 Zur Ersten Frauenbewegung in Deutschlandbzw. in transnationaler Perspektivesind zuletzt erschienen: Briatte, Bevormundete Staatsbürgerinnen;S chaser/Schraut/Steymans-Kurz (Hg.), Erinnern, vergessen, umdeuten?; Schaser, Frauenbewegung in Deutschland 1848-1933. Mehrere europäische Frauenbewegungen vergleichen Sylvia Paletschek/Bianka Pietrow-Ennker (Hg.), Women'sEmancipation Movements in the Nineteenth Century: AEuropean Perspective, Stanford, CA 2004. 131 Dickinson, Sex, Freedom, and Power, 98. 132 Ich habe mich in dieser Studie dagegen entschieden, den Begriff der »Sexarbeit« zu verwenden.Dieser zu Ende der 1970er-Jahre geprägte Terminus ist aus meiner Sicht in hohem Maße geeignet, in gegenwärtigen Auseinandersetzungen den Arbeitsaspekt dieser Tätigkeit zu betonen und vonmoralisierenden Wertungen Abstand zu nehmen. Zugleich hielte ich es für irreführend, »Sexarbeit« für eine Phase zu verwenden,inder Prostitutionnicht nur eine berufliche Tätigkeit, sondern vielmehr Projektionsfläche für eine Fülle an negativen Zuschreibungen war, die sich zeitgenössisch in eben diesem Begriff ausdrückten.Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0