Omnis mundi creatura quasi liber et pictura nobis est et speculum. 1 1. Die Welt als Symbol und Chiffre? Zum problematischen Charakter mittelalterlicher Weltdarstellungen Wenige Dokumente fassen unser heutiges Bild von der Weltaneignung des mittelalterlichen Menschen so prägnant in Worte wie die oben angeführten Verse des Alain de Lille. Daß die Welt ein Geflecht von Symbolen darstellt und wie ein Buch zu lesen ist, ist eine Vorstellung, die -wiewohl kein Spezifikum des Mittelalters -den mittelalterlichen Menschen und in der Folge auch die mediävistische Forschung tief beeindruckt hat. Es ist daher wohl kein Zufall, wenn einer der meistgelesenen Mittelalter-Romane der letzten Jahrzehnte das Alanus-Zitat bereits auf den ersten Seiten bringt -wo es dann freilich vom Helden zur Illustration eines mittelalterlich gewandeten skeptischen Empirismus eingesetzt wird. 2 Nirgends aber scheint die Rede von der Welt als Symbol und Chiffre so sehr gerechtfertigt wie bei den mittelalterlichen Weltdarstellungen. Die 1 Alanus ab Insulis, Rhythmus (...) quo graphice natura hominis fluxa et caduca depingitur, ed. J.-P. Migne, Patrologia Latina, Bd. 210, S. 579. 2 Umberto Eco, Der Name der Rose. trad. Burkhart Kroeber, München, Wien 1982, Ndr. München 2004, S. 36 f. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 6/11/15 7:44 PM zugemessen wird, die aber nicht als Beschreibung einer räumlich erfahrbaren Wirklichkeit wahrgenommen werden? 6 Sind die mittelalterlichen Weltkarten also vom Grundsatz her als Abbild der Welt oder nur als Projektionsfläche für ein traditional verbürgtes, allegorisch deutbares Wissen zu verstehen? 7 Die bisherige Forschung tendiert in ihrem Urteil weitgehend zur zweiten Annahme. 8 In den verschiedenen mediävistischen Disziplinen haben mittelalterliche Weltkarten und literarische mappae mundi seit einigen Jahrzehnten als geistesgeschichtliche Zeugnisse eines aus der Antike ererbten, christlich ausgedeuteten Weltbildes breitere Aufmerksamkeit gefunden. 9 Das Spektrum der einschlägigen Arbeiten reicht dabei von 6 In diesem Sinn äußert sich beispielsweise Bernhard JAHN, Raumkonzepte in der Frühen Neuzeit. Zur Konstruktion von Wirklichkeit in Pilgerberichten, Amerikareisebeschreibungen und Prosaerzählungen (= Mikrokosmos, Bd. 34), Frankfurt/Main 1993, S. 19: "Mittelalterliche (!) Karten (sieht man von den in der Mittelmeerseefahrt seit dem 13. Jáhrhundert gebräuchlichen Portolankarten einmal ab) kommt es auf die Vermittlung theologischer Inhalte an". 7 Die hier angestellte Differenzierung zwischen einer nur "symbolischen" und einer genuin räumlich gedachten Geographie ist nicht gleichzusetzen mit der zu Recht inkriminierten dichotomischen Unterscheidung von geographischem Erfahrungs-(bzw. Beobachtungs-) und Toposwissen, wie sie z. B. von Friederike HASSAUER, Volkssprachliche Reiseliteratur: Faszination des Reisens und räumlicher ordo, in: Grundriß der romanischen Die Weltkarten sind keine Abspiegelungen der geographischen Realität, sind nicht die mißglückten...
Zusammenfassung Ausgehend vom Beispiel des Jourdain de l’Isle, der 1323 als Verräter und Majestätsverbrecher gehängt wurde, setzt sich der Aufsatz mit einem bis heute dominierenden Paradigma der mediävistischen Frankreichforschung auseinander. Dieses sieht in der Zähmung des fürstlichen und baronialen Adels und dem zielgerichteten Aufbau monarchischer Staatlichkeit durch das Königtum und seine Amtsträger das zentrale Faktum der spätmittelalterlichen französischen Geschichte. Das Verfahren gegen Jourdain de l’Isle, der zahlreiche Fehden im südwestfranzösischen Raum geführt hatte, fügt sich auf den ersten Blick gut in diese Erzählung ein. Es scheint einen ersten Schritt auf dem Weg zur Unterdrückung adliger Eigengewalt und zur Herausbildung eines monarchischen Gewaltmonopols darzustellen. Die genaue Untersuchung erweist das Fallbeispiel allerdings als erheblich vielschichtiger. Jourdains schmähliches Ende war nicht das Ergebnis zielgerichteter königlicher Politik, sondern ergab sich vielmehr aus seiner Verstrickung in zwei einander überschneidende Parteikonflikte am französischen Hof und der avignonesischen Kurie. Erst dieser Kontext erlaubte es Jourdains lokalen Gegnern, die königlichen Gerichtsinstanzen für die Ausschaltung ihres Kontrahenten zu instrumentalisieren. Angesichts dessen mündet der Aufsatz in das Plädoyer, die Verdichtung staatlicher Strukturen im spätmittelalterlichen Frankreich als „statebuilding from below“ zu analysieren und zugleich die Bedeutung faktionaler Konflikte stärker als bisher zu berücksichtigen. Zugleich zeigt er Perspektiven für die Untersuchung weiterer „politischer“ Prozesse des 14. und 15. Jahrhunderts auf.
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