Erving Goffman ist nicht nur einer der großen Klassiker der Soziologie; er ist ein bei Studierenden zeitlos beliebter Klassiker. Seine Arbeiten sind alltagsnah und nachvollziehbar, unprätentiös und verständlich, und nicht selten sind sie ausgesprochen witzig. In ihnen bietet Goffman jedoch nicht nur eine tiefgründige, sondern eine Form der hinterlistigen Soziologie: Seine Strategie besteht darin, die Leserinnen an Grundeinsichten der Soziologie heranzuführen, indem er sie bei ihren Alltagserfahrungen abholt, sie in Anekdoten wohlig warm ruhen lässt und zwischendurch immer wieder das abstrahierende und soziologisierende Thermostat hochregelt. In Goffmans Analysen des Alltagshandelns erkennen Leserinnen 1 ihren eigenen Alltag beständig wieder und erkennen sich selbst als Teilnehmer in genau den gleichen Szenen, die Goffman beschreibt. Goffmans Darstellungen schließen an die Irritationen, Unwägbarkeiten und Seltsamkeiten des Alltags seiner Leser an: Die Unsicherheiten in Interaktionssitutionen, die Goffman beschreibt, sind auch ihre eigenen. Durch diese hindurch werden Leser zu einer soziologischen Darstellung geführt, die weitreichende Einsichten ermöglicht. Sein Schatz besteht aus scheinbar banalen Szenen, die wir alle kennen, die Goffman jedoch aufwändig poliert, damit sie ihren Wert an den Tag legen.Zur soziologischen Verwertung dieser sofort erkennbaren Alltagssituationen trägt Goffman eine metaphorische Umformulierung an sie heran: Durch die Metaphern von Theater, Spiel, Sprache und Ritual lässt er seine Leserinnen etwas anderes erkennen als das, was sie im Rahmen ihrer Alltagshandlung erkannt hatten. Goffman war Meister darin, Soziologie über Anekdoten, Geschichten, Szenen zu entwickeln und zu vermitteln, über nacherzählte, selbst erlebte, und auch 1 Diese Arbeit wird, wenn sie von der gesamten Gruppe spricht, weder die männliche noch die weibliche Variante als Normalform verwenden, sondern männliche und weibliche Formen durcheinanderwerfen, wo alle gemeint sind, solange kein besonderer Bezug eine der beiden Formen notwendig macht. Beide Formen stehen jeweils für alle Mitglieder der Gattung (also in diesem Fall die Gattung derer, die lesen).