Systemtheorie ist nach dem Willen Luhmanns eine "Theorie rekursiver Beobachtungsverhältnisse, also eine Theorie (Beobachtung) der Beobachtung des Beobachtens." 1 Als solche erhebt sie den Anspruch, gleichzeitig Erkenntnistheorie und Gesellschaftstheorie zu sein: Sie beschreibt gesellschaftliche Verhältnisse als Beobachtungsverhältnisse und Beobachtungsverhältnisse als gesellschaftliche. Sie ist, mit anderen Worten, "eine Theorie der Differenzierung", die "sich selbst als Resultat von Differenzierung begreif(t)" 2 und die versucht, diese ihre Selbstbeobachtung in die Theoriebildung, also in die Beobachtung der Beobachtung des Beobachtens, einzubauen. Mit diesem Ansatz versucht sie, Erkenntnistheorie auf der Höhe der gesellschaftlichen Entwicklung und Gesellschaftstheorie auf der Höhe der erkenntnis-oder wissenschaftstheoretischen Entwicklung zu sein. "Eine adäquate Erkenntnistheorie", so Luhmann, "[muß] zu einer funktional differenzierten Gesellschaft passen, also der Tatsache der Ausdifferenzierung eines Funktionssystems Wissenschaft Rechnung tragen, ja diese Bedingung ihrer Möglichkeit reflektieren." 3 Eine funktional differenzierte Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, daß sie auf eine (eine!) Repräsentation des Ganzen innerhalb des Ganzen verzichten muß. Sie hat es mit einer Pluralität nicht nur von Beschreibungen (Beobachtungen), sondern auch von Beschreibungs-oder Beobachtungssii7en zu tun, die sich entweder gegeneinander indifferent verhalten oder sich in aussichtslose Konkurrenz um die jeweilige Vorherrschaft verstricken. In Gesellschaften mit nicht-funktionaler, also segmentärer oder hierarchischer Differenzierung war (ist) dagegen "jede Artikulation des Sinnes und der guten Formen gesellschaftlichen Lebens ein Oberschichtenphänomen", also ein Herrschaftsphänomen. Die Selbstbeschreibungen des Gesellschaftssystems nutzen "die Möglichkeiten der asymmetrischen Struktur des Gesellschaftssystems selbst -sei es im Ausgang von dessen Zentrum, sei es als 1 Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990, 96. 2 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1987, 10. 3 Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 7. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 7/24/15 2:38 PM 4 Dieser Befund deckt sich ziemlich genau mit Nietzsches Ausführungen zur "Genealogie der Moral". Vgl. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Erste Abhandlung, zweiter Abschnitt: "Das Urteil ,gut' rührt nicht von denen her, welchen ,Güte' erwiesen wird! Vielmehr sind es ,die Guten' selber gewesen, das heißt die Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr Tun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden und ansetzten, im Gegensatz zu allem Niedrigen, Niedrig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften. Aus diesem Pathos der Distanz heraus haben sie sich das Recht, Werte zu schaffen, Namen der Werte auszuprägen, erst genommen: was ging sie die Nützlichkeit an!" 5 Bei Luhmann ...
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