Die Erklärung der Acidität eines Moleküls HA durch die Polarität einer Element‐Wasserstoff‐Bindung („Polaritätskonzept“) ist nicht tragfähig. Die Analyse der Protolyse verschiedener Säuren HA mit der Base H2O in einem thermodynamischen Kreisprozess zeigt drei wesentliche Beiträge, die für Aciditätsunterschiede verantwortlich sind: Die freie Standardbindungsenthalpie, ΔBG0(H−A), die freie Standardhydratationsenthalpie der korrespondierenden Base A−, ΔhydG(A−), und die Ionisierungsenergie von A−, IE(A−). In vielen Fällen steigt der Betrag von ΔBG0(H−A), d.h. die Bindungsstärke der Element‐Wasserstoff‐Bindung, mit deren Polarität. Das steht dem Polaritätskonzept entgegen. Je größer hingegen IE(A−), desto stabiler ist A− und umso acider ist HA. Es wird die Hypothese aufgestellt, dass IE(A−) mit der Möglichkeit zur Delokalisierung der negativen Ladung zunimmt. Eine Analyse der Orbitale von CH3−, NH2−, OH− und F− zeigt, dass die Delokalisierung der Valenzelektronen und damit auch der negativen Ladung in dieser Reihe zunimmt. Dieser Effekt, und nicht die Polarität der H−A‐Bindung, bedingt den Anstieg der Acidität in der Reihe CH4−NH3−H2O−HF. Die Delokalisierung der negativen Ladung lässt sich mit dem Kugelwolkenmodell im Chemieunterricht der Sekundarstufe 1 anschaulich darstellen. Daher wird ein „Delokalisierungskonzept“ statt des „Polaritätskonzepts“ zur Vorhersage und zur Erklärung unterschiedlicher Aciditäten vorgeschlagen.