Ideale und/oder nicht-ideale Theorie -oder weder noch?Ein Literaturbericht zum neuesten Methodenstreit in der politischen PhilosophieIn der anglo-amerikanischen politischen Philosophie, die im Anschluss an die Publikation von John Rawls' A Theory of Justice im Jahre 1971 vornehmlich und mehr oder weniger selbstverständlich als ideale Theorie der Gerechtigkeit betrieben wurde, ist gegenwärtig ein Methodenstreit ausgebrochen. In diesem geht es zum einen um die alte Frage nach dem Verhältnis von politischer Theorie und Praxis, zum anderen um die Bestimmung der Beziehung zwischen der politischen Philosophie und jenen Sozialwissenschaften, die sich ebenfalls mit Politik befassen. Im Folgenden werden die Hauptpositionen, die in dieser Debatte vertreten werden, vorgestellt und kommentiert. Die Anstöße für diese jüngste Selbstbefragung der politischen Philosophie sind vielfältig: Einerseits findet die Frage, ob bzw. wie sich ideale Theorien auf nicht-ideale Verhältnisse anwenden lassen, vermehrt Beachtung (I.). Andererseits wird bestritten, dass ideale Theorien für die Ausarbeitung nicht-idealer Theorien überhaupt notwendig und hilfreich seien, wobei letztere darüber Auskunft geben, wie wir mit bestehenden Ungerechtigkeiten umgehen sollten (II.). Darüber hinaus wird Rawls' Auffassung idealer Theorie selbst aus zwei entgegengesetzten Richtungen attackiert: Die einen weisen sie als zu Tatsachen-sensitiv und damit als ungeeignet für die Identifizierung des Ideals der Gerechtigkeit zurück (III.), wohingegen die anderen seine ideale Theorie für zu Tatsachen-insensitv und damit für zu ideal halten, um ihre Aufgabe, uns politische Orientierung zu gewähren, zu erfüllen (IV.). Schließlich wird grundsätzlich bezweifelt, dass eine als ideale Theorie der Gerechtigkeit betriebene politische Philosophie überhaupt in der Lage sei, ihren Gegenstand, die Politik, unverzerrt in den Blick zu bekommen (V.). 1 I. Rawls' transitorische nicht-ideale Theorie Wie so viele andere Unterscheidungen, um die herum sich Debatten in der zeitgenössischen politischen Philosophie entwickelt haben, geht auch die me-1 Für hilfreiche Kommentare danke ich Robin Celikates, Gerhard Ernst, Fabian Freyenhagen und Titus Stahl. Jörg Schaub Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 64 (2010), 3thodologische Distinktion zwischen idealer und nicht-idealer Theorie auf John Rawls zurück (vgl. 1975, 25 f., 277 f., 387). Allerdings bringt ein Blick auf die einschlägigen Einführungen und Sammelbände, die seinem Werk gewidmet sind, ans Licht, dass die folgenreiche methodologische Unterscheidung zwischen idealer und nicht-idealer Theorie, die im Zentrum der gegenwärtigen Auseinandersetzung steht, bis vor kurzem allenfalls im Vorbeigehen erläutert wurde, was die Vermutung nahe legt, dass diese Distinktion -zumindest unter "Rawls-Gelehrten" -lange Zeit als unproblematisch und selbstverständlich angesehen worden ist (vgl. Freeman 2003;Pogge 2007). Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass A. John Simmons (2010) nun eine überzeugende Rekonstruktion der Rawls'schen Auf...